Das Programm im Sommer: Peirce und Whitehead
Der Philosophiebeitrag knüpft an die Erwägungen im letzten Herbst an, die das us-amerikanische System von der Unabhängigkeitserklärung her erklären und mit dem deutschen System nach Art. 137 WRV vergleichen bzw. profilieren wollten. In den beiden philosophischen Beiträgen in diesem Semester besprechen wir Charles Peirce und Alfred North Whitehead, beides Philosophen, die das Potenzial der us-amerikanischen Entwicklung deutlich machen können. Beide Philosophen akzeptieren die experimentelle Methode in den Naturwissenschaften, sind aber auch den Kulturwissenschaften gegenüber offen. Diese Offenheit hängt u. a. damit zusammen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. innerhalb der Mathematik Entwicklungen wie die Mengenlehre, die Wahrscheinlichkeitsmathematik und die Theorie der Relationen entstanden. Dadurch wurde philosophisch manches neu denkbar. Beide knüpften an prozessuale Vorstellungen an, die im 19. Jhdt. bei Schleiermacher, Schelling und Hegel entwickelt worden waren.
Ein Aspekt der Kultur ist außer den Wissenschaften für beide Philosophen wesentlich, der Aspekt der Religion. Und daher liegt in beiden Entwürfen auch eine prozessphilosophische Gotteslehre vor. Beide Philosophen sind Pragmatisten, d. h., sie unterstellen, dass wir handelnd auf die Wirklichkeit zugreifen – und dass dieser Zugriff der Wirklichkeit nicht äußerlich ist. Wir klären die genaue Bedeutung von „Pragmatismus“ sofort bei Peirce.
Charles Sanders Peirce (1839-1914)
Wir nähern uns zuerst diesem pragmatistischen Aspekt, dessen Erörterung zudem einen wichtigen zeitgenössischen Hinweis enthält, wie der prozessphilosophische Zugang sich aufdrängte (I). Sodann belege ich den innovativen Charakter des Pragmatismus an der sogenannten „pragmatischen Maxime“ (II). Peirce hat einen bedeutenden Beitrag zur Semiotik erbracht, das stelle ich kurz dar (III). Der Abschlussteil widmet sich seinem religionsphilosophischem Beitrag (IV).
I. „Pragmatismus“: der Mensch als Mitspieler
Spätestens bei Kant wird das Problem aufgeworfen, dass es keineswegs selbstverständlich ist, welche Einstellung man zum Erkennen einnimmt. Dies stellt er auf den ersten Seiten der „Anthropologie in pragmatischer Absicht“, Darmstadt 1975, dar. Aus der philosophischen Literatur ist dazu hilfreich: Michael Hampe, Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, 2007 (stw 1864), 131-134. Dieser Text Kants ist deshalb wichtig, weil er 1902 von Charles Sanders Peirce in einem Artikel in Baldwins Dictionary of Pychology and Philosophy, 321f, verwendet wurde.
Danach gibt es drei Einstellungen:
(1) Diejenige, nach welcher der Mensch als Naturwesen ist, was die Natur aus dem Menschen macht – bzw. wie er in der Natur vorkommt.
(2) Diejenige, nach welcher der Mensch als frei handelndes Wesen auftritt. Man könnte sagen: was der Mensch aus sich macht. Kant drückt hier alternative Möglichkeiten aus, er könne an einem Spiel als Zuschauer sozusagen passiv teilnehmen – oder mitspielen.
(3) Die von Peirce und Hampe thematisierte dritte Möglichkeit findet sich im kurzen Text von Kant nicht, aber in einem bedeutenden Teil von Kants Schriften. Es handelt sich um die transzendentalphilosophische . Einstellung, derzufolge der Mensch aufgrund seiner Anschauungsformen und kategorialen Verstandesleistungen die zu erkennende Welt konstituiert. Für Peirce und vielleicht noch stärker für seinen Schüler John Dewey wird die Perspektive des aktiven Mitspielenden dann ausschlaggebend, ich zitiere einen wichtigen Text aus Deweys berühmten Aufsatz „Besitzt die Realität einen praktischen Charakter?“:
„Sofern sich jemand schon auf die Überzeugung verpflichtet hat, dass die Realität sauber und abschließend in einem Paket mit einem Band verpackt ist, das nicht mehr aufgeschnürt werden kann, es mithin keine unvollendeten Themen oder neue Abenteuer gibt, wird er der Auffassung widersprechen, dass Wissen eine Differenz erzeugt, wie man auch sonst jedem unverschämten aufdringlichen Menschen widerspricht. Doch sofern man davon überzeugt ist, dass sich die Welt selbst im Übergangsprozess befindet, warum sollte dann die Überzeugung, dass das Wissen der bedeutendste Modus ihrer Modifikation und das einzige Organ ihrer Leitung sei, a priori schädlich sein?“ (Does Reality Possess a Practical Character?, The Essential Dewey I, 124ff, 125)
Dewey führt aus, dass die Darwinsche Evolutionstheorie u. a. Belege dafür gezeigt hätten, dass das Universum nicht statisch sei, zudem zeige die Variation der Erkenntnisse in den Einzelwissenschaften, dass sich alles im Prozess befinde. Diese Einsicht seines Schülers teilte auch Peirce.
„Pragmatismus“ ist mithin eine Auffassung, in welcher der Mensch als mitspielender Teil der Wirklichkeit verstanden wird, die sich im Prozess befindet. Der Mensch ist stets Teil der Realität, sie/er steht ihr niemals gegenüber wie einem „abgepackten Paket“. Der Mensch ist mithin nicht nur als Embryo im Werden, sondern lebenslang – und er/sie nimmt wahr, dass sich die Realität gegenüber seiner/ihrer Jugendzeit verändert hat.
Der vom berühmten britischen Mathematiker zum amerikanischen Harvardphilosophen gewordene Whitehead hat im Blick auf Peirce und dessen Freund William James behauptet, dass sich in der Anfangsphase des Pragmatismus eine Neuformulierung der Philosophiegeschichte ereignet habe. Die Grundlagen von Platon und Aristoteles stünden im Licht der Entwicklungen der Mathematik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der bei James und Peirce erfolgten pragmatistischen Wende zu einer Art Neubegründung an. Der Universalgelehrte Peirce hat das vorsichtiger gesehen. Nicht nur, dass er die Mitspielermetapher in der „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ fand. Er war zudem ein sehr genauer Kenner der Logikentwicklung in Antike und Mittelalter. Vor allem aber unterstellte er m. E. zu recht, dass bedeutende Denker wie Aristoteles, aber auch religiös wichtige Figuren wie Jesus jedenfalls auch pragmatistisch gedacht hätten. Whitehead hat aber darin recht, dass sich der Pragmatismus von Phänomenologie, Neukantianismus, (Neo-)Positivusmus, Transzendentalphilosophie u. a. Entwürfen klar unterscheiden lässt. Dass wir als werdende Menschen mitspielende Tei einer werdenden Realität sind, ist das pragmatistische Alleinstellungsmerkmal geblieben. Und wie Peirce u. a. betonten, es ist eine nordamerikanische Philosophie, die aber schon 1905 auf einem Kongress in Heidelberg rezipiert wurde.
II. Die pragmatische Maxime
Das ist keine typisch „amerikanische“ Entdeckung. Aber im amerikanischen Pragmatismus brachen sich – vermittelt durch den „Amerikanischen Transzendentalismus“ (Emerson, Thoreau, Fuller u. a.) die Ideen, die von den Frühromantiker/innen, Goethe, Schleiermacher und Humboldt stammen, eine Bahn. Ich habe daher auch auf den Kontext der Demokratie verwiesen, der für das Verständnis der Werke von Peirce, James und Dewey sehr ausschlaggebemd ist, der natürlich in Deutschland in einem ernsthaften Sinn erst nach 1968 existierte, im Kern erst in den 1970er Jahren bestimmend wurde. Denn die Möglichkeiten politischer Freiheit setzten die Energien frei, welche ein Leben in Selbstbestimmung schön machen können. Das formuliert in der Unabhängigkeitserklärung die Rede vom „pursuit of happiness“). Aber – so reflektiert die sogenannte „pragmatische Maxime“, welche praktische Folgen bzw. Wirkungen eine wissenschaftliche Theorie haben kann, sollte abgeschätzt werden.
Bedenken Sie, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unserer Konzeption zuschreiben. Folglich besteht die Konzeption dieser Wirkungen aus dem Ganzen unserer Konzeption des Gegenstands! (Charles Peirce, How to make our ideas clear , 1878)
Helmut Pape hat schon in den 1980er Jahren (z. B. Einleitung zu „Phänomenologie und Logik der Zeichen“) darauf verwiesen, dass Grundfragen des „Prinzips Verantwortung“ (Hans Jonas ( http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Jonas), ein Heideggerschüler) von Peirce völlig klar formuliert werden. Wenn also zu den abgeschätzten möglichen Wirkungen solche gehören, die sittlich missbilligt werden müssen, ergeben sich konfliktreiche ethische Aufgaben. Wie ist z. B. eine demokratische Kontrolle der Wissenschaften möglich? Peirce setzt also darauf, dass neben der philosophischen Tätigkeit der Wissenschaftler/innen ein universaler Horizont in der Gesellschaft entsteht, der eben verantwortlich darüber entscheidet, welche technischen und kunstmäßigen Projekte durchgeführt werden – und welche besser unterlassen werden sollten, weil ihre Wirkungen die Möglichkeit der Freiheit negieren. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2011 in diesem Sinne eine entsprechende Entscheidung zur Stammzellenforschung getroffen, die den Wünschen und gedanklichen Ambitionen der Zivilgesellschaft in Teilen Europas entspricht – ein Beispiel für die Institutionalisierung solcher demokratischer Meinungsbildungsprozesse, die auch Peirce für notwendig hielt. Natürlich lässt sich ökonomisch besser mit (finanzieller und technischer) Industrieunterstützung forschen. Aber die hierzu erforderliche Patentierung von bestimmten praktisch hervorgerufenen Zellveränderungen widerspricht elementaren Prinzipien der Menschenrechte. Um dies zu verstehen, muss man nur allgemein gebildet sein, welches eine Voraussetzung von Demokratie im Sinne von Peirce und seinem Schüler Dewey ist. Die in den Wissenschaften entworfenen Abduktionen (Hypothesen) werden auf Überprüfungskontexte in der kunstmäßig oder technisch modellierten Erfahrung (etwa des Labors) bezogen, wo sie auf ihre induktive Tragfähigkeit überprüft werden. Die „pragmatische Maxime“ formuliert diesen durch und durch praktischen Zusammenhang. Und Handlungen gehören ganz klar in den Bereich der Ethik. Es gehört zu den negativen – und wie wir heute u. a. an der Klimakatastrophe und Fukushima sehen fatalen Folgen des Erfolgs von Positivismus und Neopositivismus, dass sie die Peirce’sche Idee, wie Ideen „klar“ gemacht werden, aus dem Bereich der Ethik in einen angeblich „neutralen“ wissenschaftlichen Bereich transformiert haben, wo (was nicht so gerne zugegeben wird) letztlich ökonomische Interessen entscheiden.
Logisch-semiotisch verhält es sich so: Das Abduktions-Ziel wäre eine Therapie für Parkinson. Die lautet: Dieses Ziel kann durch gentechnologische Manipulation von Zellen „überzähliger Embryonen“ erreicht werden, weil sich hieraus geeignete Präparate gegen Parkinson gewinnen lassen. Eine Überprüfung, die das sicherstellen könnte, ist noch nicht in Sicht. Der EuGH verlangt also, man müsse belegen, den Erfolg einigermaßen sicherstellen zu können. Er hat klar aus der Sicht der Menschenrechte die Konsequenzen für nicht sicher gehalten.
III. Semiotik
Es war das von allen anderen auch anerkannte Verdienst Peirce’ bestimmte Grundlagen logisch-semiotischer Art gelegt zu haben, die manchmal nicht direkt zitiert werden, aber noch bis zu Deweys Theory of Inquiry (1938 [vgl. wichtige Auszüge in: The Essential Dewey II]), die akzeptierte Grundlage bildeten. Dewey hatte bei Peirce Logik gehört – und das macht sich auf jeden Fall bemerkbar.
Grafik 1: Genuin Triadische Bezeichnungsrelation, keines der drei Relata der Bezeichnungsrelation Zeichen, Objekt und Interpretant darf fehlen, alle sind stets durch die genuin triadische Bezeichnungsrelation verbunden, der Interpretant ist stets eine reflexive Interpretation eines schon vorhanden Interpretationsprozesses.
Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, dass sein Objekt genannt wird, dass es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu stehen, in der es selbst steht. Das bedeutet, dass der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt – und so fort ohn Ende. (Phänomen und Logik der Zeichen, 64)
Dass Erkennen und wissenschaftliches Erkennen Zeichenprozesse sind, ist eigentlich auch ein truism, aber leider wird dieser häufig nicht beachtet. Noch heute meint man, eine wissenschaftliche Behauptung sei eine Vorstellung, ein mentales Urteil, möglicherweise handelt es sich sogar um – bislang unbeobachtbare – Gehirnprozesse. Davon kann kaum eine Rede sein, wissenschaftliche Behauptungen werden öffentlich gemacht, öffentlich diskutiert usf. Mithin sind sie Zeichenprozesse. Die Pointe Peirce’ besteht in zwei wesentlichen Punkten:
(1) Der wissenschaftliche Prozess ist als Erkennen mit dem Objekt in einer genuin triadischen Relation relational verbunden, die sinnliche Wahrnehmung des „Objekts“ im „Zeichen“ wird im „Interpretanten“ dargestellt. Da der Interpretant selbstreflexiv darstellt, ist auch unterstellt, dass schon die sinnliche Wahrnehmung im Zeichen auf einen solchen triadischen Prozess zurückgeht, mithin: Sofern sinnliche Wahrnehmung selbst ein Zeichenprozess ist, sind die angeblichen Sinnesdaten als absoluter Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis, wie dies die Positivisten unterstellten, Teile eines unendlichen Zeichenprozesses, ein Punkt, den besonders Bertrand Russell als überaus bedrohlich empfand; vgl. die Auseinandersetzung zwischen Russell und Dewey in: The Essential Dewey II, 201ff; 408ff; mit ausführlichen und fairen Russellzitaten, in denen Russell auf der Machschen Position beharrt.) Dewey hat später mit Recht betont, dass die Ideen von Peirce mit denen von Whitehead besonders verwandt seien, weil beide auf unterschiedliche Weise, den falschen Gemeinplatz infragegestellt hätten, es gäbe so etwas wie eine Subjekt-Objekt-Spaltung usf. bzw. eine faktisch sichere Ausgangsbasis in Sinnesdaten. Auch Sinnesdaten beruhen auf einem Interpretationsprozess, so Peirce, mithin müssen viele solche Interpretationen miteinander verglichen werden. Folglich ist anders als Popper meinte, nicht nur die Induktion problematisch, wie also die Sinnesdaten zu einer Theorie zusammengefügt werden, schon die sinnliche Erfahrung stellt eine prinzipiell fallible Interpretation dar.
(2) Für alle Pragmatisten bis hin zu Habermas heißt das dann, dass der Wissenschaftsprozess zukunftsoffen ist, er hat als Ziel mithin die Zustimmung aller derjenigen, die sich wissenschaftlich kompetent engagieren. Bzw. man kann zurückhaltender sagen, dass er dieses Ziel haben können muss, wenn man gründlich nachdenkt. Dies heißt dann aber auch, dass man im Sinne der „Pragmatischen Maxime“ Peirce’ stets die Konsequenzen des eigenen wissenschaftlichen Handelns mitbedenken muss, Ethikkomissionen werden heute additiv sozusagen standardmäßig aufgebaut. Für Dewey bedeutete dies, dass die Zahl derjenigen, die wissenschaftlich kompetent sind, durch geeignete demokratische Erziehung möglichst weit gefasst werden muss; vgl. dazu meine Darstellung. Anders als in der spätpositivistischen oder neopositivistischen Position Poppers liegt also kein prinzipieller Erkenntniszweifel vor. Stattdessen besteht die Erwartung, dass die Wissenschaften vor dem Hintergrund einer breiten Kompetenz in der Bevölkerung ihre hochkomplexen und universal angesetzten Aufgaben einigermaßen lösen und dabei die Realität zugunsten sittlicher Ziele verändern könnten. Es sind hier also keineswegs die wissenschaftlichen Expert/inn/en gefragt, sondern die ursprüngliche pragmatistische Idee besteht darin, dass es zu einer Demokratie gehört, dass das Wissenschaftssystem möglichst viele Menschen durch Allgemeinbildung und in die Tiefe gehende unendliche Bildungsbemühungen beteiligt. Dies ist besonders eindrücklich von Dewey bedacht worden, der auch die entsprechenden sozialen Voraussetzungen immer deutlicher erkannte, z. B. einen Sozialstaat, der deutlich über gewöhnliche „amerikanische Verhältnisse“ hinausgeht; vgl. „Democracy is Radical“, in: The Essential Dewey I, 337ff, aber Dewey zufolge sehr wohl in den klassischen Dokumenten der amerikanischen Revolution und Demokratie angelegt sei.
In der Grafik 2 wird sichtbar, wie Peirce‘ Zeichenmodell in biosemiotischen Kontexten verwendet wird.
Grafik 2: Quelle: Thure von Uexküll u. a., Psychosomatische Medizin, 2008, 9.
Das „Merken“ führt zum „Wirken“, wodurch die Realität, die wahrgenommen wurde, verändert wird. Dies geht Uexküll zufolge nur durch eine entsprechende Interpretation, die u. a. am eigenen Bedürfnis orientiert ist.
Zwischen den Pragmatisten und dem Vater von Uexkülls scheint keine wechselseitige oder auch nur einseitige Wahrnehmung zustande gekommen zu sein. Hier liegt aber eine wesentliche wissenschaftliche Chance, um Einseitigkeiten in der Biologie infrage zu stellen.
IV. Religion: die Extravaganz religiöser Zeichen
Einen romantisch inspirierten Versuch hat auch Peirce vorgelegt:
Und was ist Religion? Sie ist eine Art Gefühlsregung in jedem einzelnen Menschen, oder auch: eine verborgene Wahrnehmung – eine tiefe Erkenntnis von etwas im uns umgebenden All; und wenn wir versuchen, diesem Gefühl Ausdruck zu geben, so wird es sich in mehr oder weniger extravagante Formen kleiden und als mehr oder wenig zufällig erscheinen, immer aber wird es sich zu einem Ersten und Letzten, dem Α (Alpha) und Ω (Omega), bekennen und in derselben Weise auf jenes Absolute bezogen sein, dem das individuelle Selbst eines Menschen als relatives Sein gegenübersteht. Doch Religion ist in ihrer Totalität nicht auf das einzelne Individuum beschränkt. Wie jede Gestalt von Realität ist sie wesentlich eine soziale und öffentliche Angelegenheit. Sie besteht in der Idee einer umfassenden Kirche, in der sich alle ihre Glieder zu einer organischen, systematischen Wahrnehmung der Ehre des Höchsten verbinden – einer Idee, die von Generation zu Generation wächst und einen Vorrang in den Entscheidungen über unser Verhalten, das private wie das öffentliche, beansprucht. (Religionsphilosophische Schriften, 2005, 208f)
Der Text stammt vom Ende der 1870er Jahre und plädiert dafür, dass die Religion nicht versucht, ständig sich hinter den Entwicklungen insbesondere der Naturwissenschaften her zu differenzieren, weil Peirce der Meinung ist, dass die Naturwissenschaften am Ende mit der experimentellen Methode erfolgreich sein würden. Daher plädiert er dafür, das eigene Prinzip zu entdecken. Wie bei Schleiermacher bezieht sich die Religion auf das Universum bzw. das All. Ein Element dessen ist das Absolute, welches in der Religion verehrt wird. Die unterschiedlichen Formen der Religion tendieren zu einer Vereinigung, Peirce denkt dabei nicht nur an das Christentum, sondern er hat sich auch mit dem Neohinduismus auseinandergesetzt.
Peirce entstammte einer Ostküstenfamilie, sein Vater war der damals führende Mathematiker in den USA, seine Mutter führte einen romantischen Salon. Beides kommt bei Peirce zum Tragen, seine Relationenlogik wird die Grundlage seiner Semiotik – und sie stellt bis heute ein konkurrierendes Modell zu den Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead dar, was dieser auch klar erkannt hatte. Aber zugleich war Peirce von den romantischen Ideen Ralph Waldo Emersons beeindruckt. Und so versuchte er beide Aspekte in seiner Arbeit zu verbinden. Diese Vielfältigkeit erklärt es wohl neben der Schwierigkeit der Relationenlogik, wieso Peirce vor allem in den Kulturwissenschaften rezipiert worden ist. Dabei steht an allererster Stelle Umberto Eco, der die Relationenlogik Peirce’ verstanden und ganz richtig in eine kommunikationsorientierte Erzähltheorie übersetzt hat, von der ich dankbar profitiert habe. Wer Ecos Roman „Der Name der Rose“ kennt, auch die Verfilmung, kann in William von Baskerville nicht nur „postmoderne“ Anspielungen auf William von Ockham und Sherlock Holmes erkennen, sondern auch auf Charles Sanders Peirce. Dabei drückt Eco erzählerisch seine Entscheidung aus, dass Peirce am besten nominalistisch gelesen werden müsse.
Wie Schleiermacher bezieht Peirce die Religion auf das Gefühl und nimmt an, dass dieses individuell geprägt ist. Wie Schleiermacher meint er, vor dem Hintergrund vieler individueller Äußerungen entstehe die Religion als öffentliche Sozialform, die sich auf das Absolute beziehe. Damit meint er nicht, dass religiöse Menschen anderen etwas vorschreiben könnten oder dürften. Sein Grundoptimismus bestand darin, dass diese individuell, romantisch geprägte Religion mit der Wissenschaft kompatibel sein würde. Wenn die Religion aufhört, bestimmte Behauptungen über den Prozess der Natur aufzustellen, die sich dann angesichts der experimentellen Methode nicht halten lassen, werde der Weg frei sein, dass auch Wissenschaftler/innen sich wieder den Fragen des Alls zuwenden würden, wie es bei Schelling angedeutet war. Peirce ist also naturphilosophisch einer der späten Verteidiger der Annahme der Romantiker gewesen, die Natur besitze eine eigene Potenz – und werde nicht nur vernutzt, ein Punkt, der auch bei Whitehead wieder wichtig wird.
Für uns ist wesentlich, dass er der erste mir bekannte Vertreter des Extravaganzkonzepts ist. Als Logiker sah er natürlich, dass religiöse Äußerungen nicht logisch genau und auch nicht empirisch durch die experimentelle Methode bestätigbar sind. Am Ende der 1870er Jahre stand das für ihn fest. Daher versuchte er, religiöse Äußerungen komplexer zu verstehen. Ein Motiv ist jedenfalls gewesen, dass Peirce die positivistische Bewegung zwar wissenschaftlich akzeptierte, aber einen starken Sinnlosigkeitsverdacht hegte. Man kann das mit Wittgenstein vergleichen, der zwar glaubte, mit dem Tractatus alle philosophischen Fragen logisch-mathematisch gelöst zu haben, aber zu den Lebensfragen trüge das nichts bei. Daher glaubte Peirce, dass in der Religion ein positives Potenzial schlummere, das aber poetisch usf. entfaltet werden müsse. Und so schlug er vor, dass Alltagskonzepte in öffentlicher Form irritiert würden – und die gefühlsorierentierten Menschen Alltagskonzepte neu fassen würden, womit sie ihre Wahrnehmung des Alls oder im All zum Ausdruck brächten. So würde der Alltag auf das Universum hin geöffnet, womit es möglich werde, dass positivistische und utilitaristische Verkürzungen vermieden werden können.
Alltagskonzepte oder gewöhnliche Konzepte werden in öffentlicher Kommunikation verfremdet bzw. irritiert, darin besteht die Ausdrucksform jener Wahrnehmung im All oder des Alls. Und das ist außergewöhnlich bzw. extravagant. Extravagante Rede oder solche Bezeichnungen kommen aus dem Alltag, aber irritieren alltägliche Zwänge oder Gewohnheiten – und eben Bezeichnungsweisen, die solche Zwänge und Gewohnheiten zum Ausdruck bringen. Dazu müssen diese in den Bezeichnungsprozessen aber indiziert bzw. repräsentiert sein. Zunächst sind extravagante Bezeichnungen eher ein spontanes Phänomen – und niemand weiß zunächst, ob sie in stabile Kodierungen übergehen. Und solcher Art sind einige religiöse Äußerungen Peirce zufolge.
Diesen Punkt nimmt Peirce ernst. Wie Schelling unterstellt er, dass auch Gott zusammen mit dem Weltprozess wird, also wie die gesamte Realität wird.