Gen 11 1Es war so, dass die ganze Erde eine einheitliche Sprechweise und übereinstimmende Worte hatte. 2Da geschah es, als sie von Osten aufbrachen, dass sie eine Ebene im Lande Schinar fanden und sich dort niederließen. 3Und sie sprachen, ein Mensch zu seinem Mitmenschen: »Wohlan! Wir wollen Lehmziegel ziegeln und im Brand brennen!« Und der Ziegel diente ihnen als Stein, und das Erdpech diente ihnen als Mörtel. 4Und sie sprachen: »Wohlan! Wir wollen eine Stadt und einen Turm bauen, und seine Spitze soll himmelhoch sein. So wollen wir uns einen Namen machen, dass wir uns nicht zerstreuen über die ganze Erdfläche!« 5Da stieg der Herr hinab, um die Stadt und den Turm zu besehen, welche die Menschen bauten. 6Und der Herr sprach: »Ja, ein Volk sind sie und eine einheitliche Sprechweise haben sie alle – und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Und nun: Nichts wird ihnen unausführbar bleiben, was immer sie sich zu tun vornehmen. 7Wohlan! Wir wollen hinabsteigen und dort ihre Rede durcheinander bringen, sodass kein Mensch mehr die Rede der Mitmenschen versteht.« 8Da zerstreute der Herr sie von dort über die ganze Erdfläche, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. 9Von daher nennt man ihren Namen Babel, ›Durcheinander‹, dort hat ja der Herr die Sprechweise der ganzen Erde durcheinander gebracht, und von dort hat der Herr sie über die ganze Erdfläche zerstreut. (Vgl. Bibel in gerechter Sprache, z. St.)
Liebe Gemeinde,
Gott, der Herr, hat es nicht leicht mit den Menschen in der Urgeschichte, in Gen 1-12,3. Zunächst erschafft er sie als weibliche und männliche Wesen, welche als seine Bilder die Schöpfung beherrschen und bewahren sollen. Mithilfe der Schlange essen Eva und Adam vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, sie werden dadurch sittlich genauso klug wie Gott – und müssen deshalb das Paradies verlassen, damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und wie Gott unsterblich werden. Gott, der Herr, achtet also darauf, dass die Menschen ihm nicht völlig gleich werden.
Alsbald treten aber Probleme mit der sittlichen Urteilskraft der Menschen auf. Obgleich sie „gut“ und „böse“ unterscheiden können, bringt Kain seinen Bruder Abel um, weil Gott, der Herr, Abels Opfer seinem vorgezogen hatte. Auch die folgenden lang lebenden Patriarchen sind schwierig, einzig Henoch lebt ganz auf Gott, den Herrn, bezogen – und wird deswegen zu Lebzeiten zu Gott aufgenommen. Ja, da gibt es noch Noah, der fromm lebt. Als es aber in der himmlischen Welt eine kleine Jugendrevolte gibt und die Engel Sex mit menschlichen Frauen haben und gewaltige Kinder entstehen, Riesen, da reicht es Gott, dem Herrn. Er zweifelt daran, ob es wirklich gut oder sehr gut war, diese Menschen als seine Bilder zu schaffen. Und er bereut es. Daher beschließt er die Himmelsschleusen zu öffnen – und die Menschen, aber auch die Tiere zu ertränken. Nur Noah mit seiner Familie geht mit einzelnen Tierpaaren in die Arche. Nachdem die Sintflut abnimmt, bereut auch Gott, der Herr, seine Gewalttätigkeit. Und er verspricht anzunehmen, dass die Menschen böse von Jugend an seien. Und er werde nicht mehr so ausrasten, wie bei der Sintflutaktion.
Das ist grob die Vorgeschichte zu unserer heutigen Erzählung vom Turmbau zu Babel, liebe Gemeinde.
Auch in ihr zeigt sich wieder das Bestreben der Menschen, über sich hinauswachsen zu wollen und in Babylon einen hohen Turm zu errichten, der ein Symbol ihrer Bedeutung sein soll:
»Wohlan! Wir wollen eine Stadt mit einem Turm bauen, und seine Spitze soll himmelhoch sein. So wollen wir uns einen Namen machen, dass wir uns nicht zerstreuen über die ganze Erdfläche!«
Der weithin sichtbare Turm soll zeigen, an dieser Stelle ist die Zentrale, da können wir uns herum versammeln – und siedeln. Der Turm symbolisiert die menschliche Kreativität und Kunstfertigkeit im Bauhandwerk und der Architektur. Aber es ist auch ein Symbol des menschlichen Machtstrebens, sich einen Namen zu machen.
5Da stieg der Herr hinab, um die Stadt und den Turm zu besehen, welche die Menschen bauten. 6Und der Herr sprach: »Ja, ein Volk sind sie und eine einheitliche Sprechweise haben sie alle – und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Und nun: Nichts wird ihnen unausführbar bleiben, was immer sie sich zu tun vornehmen. 7Wohlan! Wir wollen hinabsteigen und dort ihre Rede durcheinander bringen, sodass kein Mensch mehr die Rede der Mitmenschen versteht.«
Gott, der Herr, erlebt den Turmbau zu Babel als Bedrohung. Die Menschen wollen in ihrer Kreativität wieder die Grenze zwischen ihm und sich einreißen. So wie Adam und Eva aus dem Paradies mussten, um nicht vom Baum des Lebens zu essen und unsterblich zu werden. Die Zentralisierung an einer Stelle in Babylon soll diese Maßlosigkeit bezeichnen. Alles geht von Babylon aus und zieht nach Babylon.
Es geht in der Erzählung nicht um Technikkritik. Wir haben heute in Frankfurt und insbesondere New York höhere Türme als in Babylon, was wir archäologisch wissen können. Und dazu werden andere Baumaterialien verwendet als Ziegel. Gott, der Herr, ist nicht ein Gegner des Hochbaus. Aber er ist überzeugt davon, er könne die Maßlosigkeit des menschlichen Tuns dadurch bremsen, dass er die einheitliche Sprechweise der Menschen, ihre anfängliche Einheitssprache verwirrt.
Was soll das? Um ein Haus oder einen Turm zu bauen, sind neben architektonischen Kenntnissen, wozu auch etwas Mathematik gehört, vor allem leistungsfähige Kommunikationsformen erforderlich, um Zusammenarbeit möglich zu machen. Ohne Verständigung von Menschen kein Turm. Keine Architektin kann ihre Pläne ins Werk setzen, wenn Meister und Arbeiter/innen sie nicht verstehen und diese als Handlungsanweisungen akzeptieren. Und nach der Verwirrung der Einheitssprache wird der Bau des Turms nicht fertig – und bleibt eine Ruine. Das Zentralisierungsprojekt ist gescheitert – und die Menschen werden auf der Erde verstreut.
Neben der technischen Funktion der Sprache kennt die Urgeschichte eine zweite wichtige Funktion der Sprache. Die Menschen müssen sich über das verständigen, was „gut“ und „böse“ ist. Und auch das macht der Verlust der Einheitssprache schwieriger. Um fremde Auffassungen zu verstehen, müssen wir übersetzen. Das ist aufwändig und kostet Zeit. So ist es für viele Menschen in der Mitte Deutschlands nicht immer ganz leicht zu verstehen oder gar einverstanden damit zu sein, was manche Bayern sagen.
Unsere Erzählung vertritt also eine tiefe Weisheit. Die menschliche Kreativität und Kunstfertigkeit ist dann nicht maßlos, wenn wir immer ihre individuelle und auf andere menschliche Kreativität bezogene Gestalt beachten. Auch ein Wolkenkratzer ist Stückwerk. Und die sittliche Urteilskraft, die Fähigkeit zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden, ist plural, vielfältig strukturiert, sodass wir mit anderen Menschen darüber sprechen sollten – und immer fragen, was uns andere zu sagen haben, ob wir vielleicht davon infrage gestellt werden können, was sie sagen.
Ich will das kurz an einem Problem unserer Gegenwart aufzeigen, der Digitalisierung. Diese hat mindestens zwei Folgen:
- Es fallen ganze Industriezweige weg – und damit auch Berufe.
- Es entsteht zum ersten Mal technisch die Möglichkeit, dass alle Menschen miteinander kommunizieren können, wobei das Übersetzungsproblem jetzt weltweit auftritt.
Wie das schief gehen kann, sehen wir in den USA. Weil dort der industrielle Veränderungsprozess sehr weit fortgeschritten ist, kommt es in einigen Teilen zu sozialen Verwerfungen. Da das aber nicht sozial abgefedert wurde, setzt sich der größte Twitterer vor dem Herrn, Donald Trump durch. Denn er hat die Stimmen der sozial Ausgegrenzten gehört. Es gehört zu den interessanten Phänomenen, dass Trump sexistisch, rassistisch und vulgär sein darf, solange die Ausgegrenzten den Eindruck haben, er tue etwas für sie.
Das hängt damit zusammen, dass alle Sprechweisen und Sprachen nicht von sich aus zu einem vernünftigen Einverständnis tendieren. Sondern sie ermöglichen verschiedene Orientierungen, die sich gegeneinander abschließen können. Trump twittert nicht verständigungsorientiert und erwartet Zustimmung und Gefolgschaft von seinen Follower/inne/n. Deswegen beschimpft er hemmungslos mögliche Gegner/innen. Und er macht es z. T. witzig und geschickt.
Die Weisheit unserer Erzählung ist es aber uns zu ermutigen, mit anderen ernsthaft zu sprechen, uns auch als relativ und individuell zu verstehen – und bereit dazu werden, mit uns fremden Menschen zu sprechen. Darin besteht unsere Kreativität als Bilder Gottes, die nur wenig von Gott verschieden sind, wie unsere Schriftlesung aus Psalm 8 sagt.
Amen