Heute sollen uns zwei wichtige Beiträge des russischen philosophischen Denkens beschäftigen: Nikolai Kondratjew (Kondratieff) und Wladimir Iljitsch Lenin.
Beim zweiten Termin bespreche ich Dostojewski und Tolstoi.
Falls Ihnen bestimmte Namen und/oder Positionen unbekannt sein sollten, können Sie die Suchfunktion des Blogs benutzen. Und ich beantworte gerne Ihre Fragen!
1 Lenin (1870-1924)
Lenin gehört natürlich zum Thema Russland, aber seine Position ist auch philosophisch aufschlussreich, weil er Karl Marx darin folgte, dass die Philosophen die Welt bisher interpretiert hätten. Es gelte sie aber zu verändern, wie es in der „Deutschen Ideologie“ heißt.
1.1 Biografie

Lenin
Wladimir Iljitsch Uljanow ist sein richtiger Name, „Lenin“ ist ein Pseudonym, das er als Revolutionär verwendete. Möglicherweise soll es besagen: „der vom (sibirischen) Fluss Lena stammende Mann“ (vgl. den einschlägigen Wikipedia-Artikel).
Sein Bruder plante ein Attentat auf den Zaren und wurde danach hingerichtet. Danach trat Lenin in die Sozialdemokratische Partei Russlands ein und versuchte, die kommunistische Revolution zu befördern. In der Sozialdemokratischen Partei beförderte er die Räteidee, was zur Bezeichnung Bolschewisten führte, die Kommunistische Partei Russlands und dann der späteren Sowjetunion.
Im ersten Weltkrieg verlor das Zarenregime an Zustimmung, es ergab sich 1917 eine bürgerlich-demokratische Revolution. Die neue Regierung blieb im Krieg – und die Bolschewisten erreichten im Oktober 1917 die Macht, unter Auflösung der Grundrechte. Im anschließenden Bürgerkrieg setzte sich die bolschewistische Fraktion durch und es kam zur Gründung der Sowjetunion.
Lenin entstammte einer adligen Familie und sein Kindermädchen hieß Lena, sodass sich sein Pseudonym auch darauf beziehen könnte (er sei das Kind Lenas).
Sein Leben war durch Exilzeiten in Deutschland und der Schweiz gekennzeichnet, z. B. lebte er in München, Berlin und Zürich. Daher hatte er auch Einfluss auf die SPD, aus der sich dann der Spartakusbund bildete, der Vorläufer der KPD wurde. Im Spartakusbund war Rosa Luxemburg aktiv, welche die dauerhafte terrororientierte Auflösung der Menschenrechte ablehnte:
Luxemburg akzeptiert daher die Position Lenins, dass die Revolution nicht naturnotwendig komme, sondern aktiv befördert werden müsse – aber nicht unter Umgehung von Freiheit und Selbstbestimmung durch (letztlich physischen) Zwang.
Dahinter stecken einige philosophische Probleme, die im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die nicht völlig von der Hand zu weisende These z. B. Rudi Dutschkes, dass der systematisch organisierte Terror der Bolschewisten und die Ermordung ganzer Bevölkerungsschichten auf der noch nicht entwickelten Struktur der russischen Gesellschaft beruhe, die noch keine demokratische, bürgerliche Mäßigung erfahren habe, scheint mir philosophisch zu vordergründig. Ich neige eher der Auffassung Hannah Arendts zu, die meint, auch bei Lenin habe sich schon der physische (naturwissenschaftliche) Gesetzesbegriff durchgesetzt, sodass die Eliminierung von einzelnen Personen hingenommen werden muss, weil sie sich dem Gesetz widersetzten. Für Stalin gilt das, aber es gibt Hinweise darauf, dass Lenin das vielleicht nicht so eindeutig gesehen hat.
1.2 Die leninistische Position und ihre philosophischen Probleme
Zunächst vergegenwärtigen wir uns kurz Marx’ Position. Dem Kommunistischen Manifest zufolge ist die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen. Es gibt stets zwei Gruppen, von denen die eine die andere beherrscht:
- Freier Herr und Sklav/e/in.
- Feudalistischer Adel und Bauern.
- Wirtschaftsbürger und Arbeiter/innen.
Der letzte Gegensatz ist so extrem, der Arbeiter wird so stark ausgebeutet, dass er nur seine Ketten zu verlieren hat. Daher kommt es zu einem qualitativen Umschlag in der Geschichte. Der kurze Terror, den auch Marx in Erwägung zieht, geht schnell vorüber. Die klassenlose Gesellschaft entsteht – und sogar der Staat stirbt in der kommunistischen Gesellschaft ab.
Dabei ist vorausgesetzt, dass die wirtschaftliche Produktionsweise letztlich nicht mehr auf Konkurrenz beruhen kann, sondern allmählich gesamtgesellschaftliche Formen annimmt. Wenn die Arbeiter/innen also die Macht übernehmen, sind schon wichtige Prozesse gelaufen, die Wirtschaft ist monopolisiert – und die Konkurrenzgesellschaft existiert nicht mehr. Marx sah das in England und Deutschland, auch Frankreich und sogar den USA bald kommen.
Arendt hat recht, das ist eine naturgesetzliche Interpretation der Hegelschen Dialektik. Den Prozess der Revolution beschreibt der wissenschaftliche Sozialismus. Das ist tatsächlich deskriptiv gedacht.
Lenin kommt aber aus einer feudalistischen Gesellschaft, in welcher der Adel noch einer großen Bauernschaft gegenübersteht, in der die kapitalistische Wirtschaftsweise nicht fehlt, aber bei Weitem nicht so dominant wie in England, Frankreich, Deutschland und den USA ist. Lenin sah aus der russischen Perspektive mithin, dass der dialektische Prozess nicht überall so verläuft wie in England oder Deutschland. Lenin versteht den Geschichtsprozess nicht als deterministisch, was bei Marx und Engels im Wesentlichen der Fall ist, nach der Hegelschen Auffassung, Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit – ein heute z. B. bei Gehirnforscher/inn/en beliebter Gedanke.
Dagegen ist Lenin davon überzeugt, dass individuelle Freiheit geschichtliche Prozesse bestimmen kann. Er liegt in dieser Frage auf der Ebene der Neukantianer, aber nicht zuletzt der Pragmatisten.
Daher lautet ein Leninscher Grundsatz:
Die Gesellschaft ist durch individuelles Handeln erzeugt.
In Russland ist das anders gelaufen als in England. Und selbstverständlich ist jedes individuelle Handeln von einem gesellschaftlichen Kontext geprägt, aber die Unterschiedlichkeit gesellschaftlicher Situationen kann nur durch diesen individuellen, „subjektiven“ Faktor ausreichend erklärt werden. Damit befindet er sich auf dem Niveau etwa Max Webers oder von Charles Peirce. Es ist daher kein Wunder, dass der Peirce-Schüler John Dewey Vorlesungen in Moskau hielt, wobei er die Menschenrechtsverletzungen der Bolschewisten für falsch und ethisch verwerflich hielt. Aber es ist klar sichtbar, dass die Leninsche Position ein pragmatistisches Element enthielt.
Wer angemessen und engagiert handelt, ist der/die Revolutionär/in. Dazu entwickelte Lenin das Konzept der Kaderpartei, welche die Avantgarde der Arbeiterschaft sein soll. Wenn durch diese Revolutionär/inn/e/n die Gesellschaft verändert wird, dann lösen sich viele Probleme.
„Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse aus eigenen Kräften nur ein trade-unionistisches [d. h. gewerkschaftliches] Bewusstsein hervorzubringen vermag (…). Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. (…) Das politische Klassenbewußtsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, d. h. aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“ (Was tun, 1902, 107f.)
D. h., Lenin sah, dass die Gewerkschaftsbewegung eine Änderung der kapitalistischen Gesellschaft zuwege bringen werde, aber diese bliebe grundsätzlich erhalten. Daher Kaderpartei und Terror, einschließlich Geheimdienst.
M. E. kann man/frau an Lenins Position gut sehen, dass Geheimdienste nur deswegen existieren, weil die menschliche Freiheit real ist – und diese von den jeweils Mächtigen als allergrößte Gefahr gesehen wird.
2 Nikolaj Kondratjew (1892-1938)
Im „Kommunistischen Manifest“ wird die Einheit von Kapitalismus und Technik hervorgehoben. Es ist klar, dass insbesondere die „Bourgeoisie“ die Einsichten von Physik und Chemie nutzt, um das Leben zu erleichtern und Gewinne zu erzielen. Weiter wird dadurch die Geschwindigkeit vieler gesellschaftlicher Prozesse erhöht. Soweit ich sehe, war aber Herbert Spencer der erste, der diesen Zusammenhang weiter präzisierte:
Denken Sie weiter an die noch markanteren Veränderungen, die sich beim Eisenbahnbau vollziehen – die Taleinschnitte, Dämme, Tunnel, Verlegungen von Straßen; den Bau von Brücken, Viadukten und Bahnhöfen; die Verlegung des Unterbaus, von Schwellen und Schienen; der Bau von Maschinen, Tendern, Personen- und Güterwagen. Diese Prozesse wirken auf zahlreiche Geschäftszweige, der Import von Holz, das Brechen von Stein, die Bearbeitung von Eisen, der Kohlebergbau, die Ziegelbrennerei wachsen an. Es entsteht eine Vielzahl von Fabriken, die wöchentlich in der Railway Times werben. Und es entstehen neue Klassen von Arbeitern: Fahrer, Heizer, Putzer, Schienenleger, Bahnwärter. Darüber hinaus gibt es noch zahlreichere und verwickeltere Veränderungen, welche die Eisenbahnen in Aktion auf die Gemeinschaft als solche ausüben. Die Organisation jedes Geschäfts wird modifiziert. Die Leichtigkeit der Kommunikation ermöglicht es etwas direkt zu vollziehen, was zuvor nur durch einen Bevollmächtigten möglich war. Es werden Agenturen aufgebaut, wo es sich früher nicht gelohnt hätte. Die Waren werden von entfernten Großhändlern statt von nahen Kleinhändlern bezogen. Und Gebrauchsgüter werden in Entfernungen verwendet, die früher als unzugänglich galten. Die Schnelligkeit und Wirtschaftlichkeit des Güterverkehrs befördert stärker die Tendenz zur Spezialisierung der verschiedenen Distrikte, die Herstellung aufgrund lokaler Vorteile auf das Produkt zu beschränken, die dort am besten geleistet werden kann. Die billige Verteilung gleicht die Preise an und senkt im Durchschnitt die Preise. Dadurch können verschiedene Waren von jenen gekauft werden, die zuvor dazu nicht in der Lage waren. Zur selben Zeit dehnt sich das Reisen ungeheuer aus. Menschen, die sich dies zuvor nicht leisten konnten, unternehmen jährlich Reisen zum Meer, besuchen ihre entfernt lebenden Verwandten, touren und ziehen daraus für Körper, Gefühle und Intellekt Vorteile. Die schnellere Übermittlung von Briefen und Zeitungen ruft weitere Veränderungen hervor. Der Puls der Nation geht schneller. Darüber hinaus entsteht eine größere Verbreitung von billiger Literatur durch Bahnhofsbuchläden und durch Werbung in Eisenbahnwagen. Beides verhilft zum im Hintergrund verlaufenden Fortschritt. Sodass jenseits der Vorstellungskraft die kurz dargelegten Veränderungen allesamt auf der Erfindung der Lokomotive beruhen. (Die ersten Prinzipien der Philosophie, 391f)
Es entstehen also mit der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse industrielle Kerne, die produktiver produzieren als zuvor: schneller und preisgünstiger. Dies zieht aber weitere gesellschaftliche Kreise, sodass sich in den Zeiten einer großen technisch-wirtschaftlichen Innovation auch ganz andere wirtschaftliche und soziale Entwicklungen ergeben, etwa das Reisen und der Buchhandel im Beispiel von Spencer. Für Spencer ist die „Erfindung der Lokomotive“ mit ihren großen wirtschaftlichen und sozialen Weiterungen ein in der Evolution sich auch sonst findendes Beispiel dafür, dass in entwickelten Gesellschaften eine einzelne Ursache mit ihren Vorgängern dynamisch nur schwer überschaubare und sehr vielfältige Wirkungen auslöst. Im Fall der Lokomotive sind sie wirtschaftlich und ingesamt sozial positiv.
Es war dann der russische Ökonom Nikolai Kondratjew, der solche Ideen und Beobachtungen zu einer neuen Wirtschaftstheorie konsolidierte. Kondratjew entstammte einer armen russischen Bauernfamilie, sodass es ihm nicht leicht fiel, eine weiterführende Bildung zu erlangen. Doch dies gelang ihm unter Entbehrungen und 1915 schloss er in Petersburg ein Jurastudium ab, wobei er eher ein „Studium generale“ durchgeführt hatte, darunter Ökonomie und Philosophie. Er engagierte sich in der „Sozialrevolutionären Partei“, wurde zweimal verhaftet, gelangte aber nach der sogenannten „Februarrevolution“ 1917 seiner Herkunft entsprechend in Regierungs- und Rätepositionen, die mit der agrarischen Entwicklung Russlands und der Ernährung zusammenhingen. Mit der „Oktoberrevolution“ der Bolschweki war sein politisch-ökonomischer Einfluss nicht völlig verschwunden. Er arbeitete intensiv an Fragen der Agrarpolitik, insbesondere an kooperativer Marktgestaltung, zunehmend aber auch an Konjunkturtheorien der (kapitalistischen) Wirtschaft insgesamt. Er wurde 1920 Leiter des neu gegründeten Konjunkturinstitutes in Moskau. Dabei ging es stets zugleich um ein tieferes Verständnis der Wirtschaft insgesamt und um die Lösung praktischer Probleme. Da Kondratjew ein recht unabhängiger Geist war, neben der von ihm geteilten revolutionären Umgestaltung (etwa der Enteignung des Landes) aber vor allem dem Gedanken der Humanität verpflichtet war, zudem die bolschewistische Wirtschaftspolitik vor allem nach der Zwischenphase der „Neuen Ökonomischen Politik“ für völlig kontraproduktiv hielt, kam es zu schweren Konflikten. Er verlor 1928 seinen Posten und geriet in die anschließende Prozesswelle der frühen 1930er Jahre. Er wurde ein Opfer des GULAG und starb erblindet und nach einem Todesurteil total isoliert 1938. Entsprechend ist zumindest ein fertig gestelltes Buch bis heute verschollen. Die Sowjetunion hat ihn 1963 teilweise unter Chrustschow und ganz unter Gorbatschow 1987 rehabilitiert.
Wirtschaftstheoretisch begriff Kondratjew, dass man die moderne Wirtschaft nur dann verstehen kann, wenn man sie als dynamisches System begreift. Dafür lobt er u. a. Karl Marx und kritisierte die klassische Theorie, die bestenfalls dynamische Gleichgewichte statischer Größen wie Angebot und Nachfrage beschreiben konnte. Dabei markierte Kondratjew den produktiven Aspekt des Wirtschaftens. Er untersuchte die wirtschaftliche Entwicklung der Dampfmaschine und der Eisenbahn und entdeckte, dass ein technologisch-wirtschaftliches Muster, also ein industrieller Kern, andere Wirtschaftsentwicklungen nach sich zieht. Die besondere Sorgfalt dieses Denkers zeigt sich darin, dass er klar erkannte, die Entwicklung sei in den untersuchten Gesellschaften nicht gleich. Mithin ist die Resonanz, die Aufnahme, die Rezeption einer produktiven Ursache in verschiedenen Märkten, die natürlich unterschiedlich kulturell geprägt sind, keineswegs gleich. Auf recht komplizierten Umwegen kommt daher die kulturelle Prägung der Konsumenten in die Wirtschaftstheorie. Kondratjew war also sehr weit von irgendwelchen Konstruktionen des homo oeconomicus, des wirtschaftlich immer gleich rational handelnden und seinen Nutzen maximierenden Menschen, entfernt. Wer „Konjunkturen“ untersucht, darf schon von den Fakten her keine einlinigen Prozesse unterstellen. Es geht bei Konjunkturen stets um
die gewöhnliche Verbindung mit reversiblen Prozessen. (Works I, 17)
Mithin gibt es keine einfach aufsteigende Linie, einen irgendwie gesteuerten oder teleologisch, auf ein Ziel hin, verlaufenden reinen evolutionären Prozess. Immer bestimmen andere Ursachen, Prägungen, Interessen, Wünsche usf. den konjunkturellen Prozess mit. Deshalb schreibt Kondratjew dem „Ensemble der Umstände“ auf Märkten eine derart große Bedeutung zu. Für eine wirtschaftliche Initiative gibt es eben günstigere oder ungünstigere Umstände. Folglich verteidigt Kondratjew das Prinzip der Konsumentensouveränität und damit die wesentliche Rolle der Nachfrage, auch wenn er für die Produktivität wirtschaftlicher Entwicklungen den kosten- und zeitsparenden Faktor wirtschaftlich-technischer Innovationen betont (positiv rezipiert insbesondere von Schumpeters Theorie des kreativen Kapitalisten, der freilich bedauerlicherweise abnimmt). Doch ohne die Zukunftserwartung von Unternehmen und an Märkte angegliederter Gruppen im Sozialismus kann es keine langfristige Resonanz geben. Wir können zunächst festhalten, dass Kondratjew eine moderne Theorie der Wirtschaft entworfen hat, die mit den Unsicherheiten, Unberechenbarkeiten der Vielzahl von möglichen Initiativen sozialverträglich umzugehen versuchte.
Heute stellt man Kondratjews Theorie in didaktisch vereinfachter Weise häufig so dar:
Quelle: Händeler, Die Geschichte der Zukunft, 11)
Kondratjew sah den Hauptpunkt sozialverträglichen wirtschaftlichen Fortschritts darin, dass Produktivitätshemmnisse einer technologisch-wirtschaftlichen Innovation durch eine neue Innovation ausgeglichen werden konnten. So kann man die Produktivität der Dampfmaschine dann steigern, wenn die Transportkosten sinken und Spencers Eisenbahn entsteht. Die Rationalisierungsverluste werden von den gesamtwirtschaftlichen Gewinnen weit überwogen. Wenn eine Welle angesichts der Tatsache nachlässt, dass es sich hier um reversible Prozesse mit sehr vielen interagierenden wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren handelt, dann kommt nach durchaus langer Zeit eine neue Welle. Das hat bis zur New Economy im Computer- und Informationsbereich einigermaßen funktioniert, verlangt aber nun vermutlich nach neuen Entwicklungen – und auch einem besonnenen Überdenken des Modells.
Kondratjew war anders als Karl Marx nicht davon überzeugt, dass der Kapitalismus mit Notwendigkeit untergehe – schloss es aber auch nicht aus. Ähnlich hat im 20. Jahrhundert vor allem Joseph Schumpeter in kritischem Anschluss an Marx und Kondratjew erwogen, es könne doch zumindest sein, dass der Kapitalismus trotz vieler sozialer Verbesserungen durch den Sozialismus ersetzt werde. Entscheidend ist für Schumpeter dabei die ja auch von Kondratjew festgestellte mutmaßlich unabänderliche Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. In den Kondratjewabschwüngen kommt es ohne Frage zu großen Arbeitslosenzahlen. Schumpeter glaubte zwar, dass man hohe Arbeitslosenzahlen verkraften konntet, weil der Kapitalismus stark genug war, entsprechende soziale Systeme aufzubauen. Doch er war vor allem skeptisch darüber, ob die meisten Menschen dies hinnehmen würden. Zudem glaubte Schumpeter, dass die von ihm als „schöpferisch“ begriffenen Unternehmer des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts durch größere Organisationen abgelöst würden, was sich im Großen und Ganzen auch bestätigt hat. Die „bürgerliche“ Grundlage des Kapitalismus, im Sinne des Besitzbürgertums, verschwindet, damit auch bestimmte Lebensformen, wie es Thomas Mann in den Buddenbrooks am Niedergang einer Lübecker Kaufmannsfamilie literarisch so eindrucksvoll beschrieben hat. Noch nüchterner als Marx begriff Schumpeter die Großorganisation als wichtigsten Aspekt beim möglichen Ende des Kapitalismus. So ist unter den Vorzeichen der Kondratjewtheorie keineswegs ausgemacht, ob eine sozialistische oder eine kapitalistische Zukunft die eindeutig bessere ist. Nur müsste wohl auch im Sozialismus ein entsprechendes Produktivitätspotenzial häufig erneuert werden.
Kondratjews Theorie ist wahrscheinlich recht plausibel. Sie hat – jenseits mathematisch-statistischer Scheingenauigkeiten – einen beachtlichen Teil des gesunden Menschenverstands für sich, wenn man sich nicht in Details verliert. Sie wirft aber auch tatsächlich grundlegende Fragen auf, die neben wirtschaftlicher Plausiblität alltagspraktisch-philosophisch relevant sind.
Zunächst ist an Kondratjews Theorie überaus sympathisch, dass er seine Theorie in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge einbetten will. Doch sind die Zusammenhänge mit dem Aufsteigen und Absinken der wirtschaftlichen Wellen, die er unterstellt (Works I, 41-45), zumindest erklärungsbedürftig und harren einer genaueren geschichtlichen Untersuchung.
Kondratjews Theorie (wohl über sein eigenes Verständnis hinaus) führt also in das ambivalente Strukturmuster der Moderne mit ihren Chancen und Verheerungen und wirft die Frage nach unserem Verhältnis zur Technik auf. Das gilt sowohl für kapitalistische als auch für sozialistische Produktionsformen.
Kondratjews Theorie ist darin stark, dass sie überhaupt den Zusammenhang des Wirtschaftsystems mit anderen kulturellen Gestaltungen thematisiert – und hier offenbar nach Parallelentwicklungen und nicht bloß einfachen Ableitungen sucht. Ungelöst ist dabei die Frage, wie die unterschiedlichen Teilsysteme der Gesellschaft (Religion, Wissenschaft, Kunst, Politik usf.) mit ihren ganz verschiedenen Kommunikationsmustern und -regeln sowie unterschiedlichen Prozessgeschwindigkeiten auf das Wirtschaftssystem zeittypisch reagieren. Das ist eine offene Aufgabe, der man/frau sich auch im eigenen Alltag stellen sollte.
Die Markt- und Erwartungsabhängigkeit der sogenannten Kondratjewzyklen hat sich gerade in diesem Bereich gezeigt. Eine Reihe von Anhänger/inne/n der Theorie sahen in den unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Gentechnologie bzw. Biotechnologie den neuen Kern eines industriellen Kerns. Doch diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, weil vor allem in Westeuropa seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine besonnenere Beurteilung technologischer Entwicklungen stattgefunden hat, die durch die Katastrophe von Tschernobyl empirisch bestätigt worden ist. Händeler, 283, sagt uns dazu, dass es sich um ein „Alkohol-Problem“ gehandelt habe, weil wichtige Leute damals betrunken waren. Doch die eigentliche Frage lautet: Können wir dies technologisch ausschließen, dass sich Menschen in solchen Positionen betrinken – bzw. wenn das nicht geht, wie müssen wir unsere Technik ausrichten, dass betrunkene Menschen irreversiblen Schaden anrichten? Natürlich kann man sozial viel tun, um das Risiko zu minimieren.
Neuere Vertreter der Kondratjewtheorie sehen z. T. sozialmoralisch inspiriert, die Entwicklungsmöglichkeiten nicht mehr so sehr in technologischen Innovationen, sondern in der Verbesserung der Kommunikation in Unternehmen und Organisationen. Viele plädieren auch für eine Expansion des Gesundheitssystems als positivem Wachstumsmarkt, der anderes nach sich ziehen kann.
Wer länger in einer Organisation gearbeitet hat, weiß in der Regel, welche Zeitverluste, auch finanzielle Verluste durch gravierende Kommunikationsprobleme innerhalb der Organisation entstehen. Die Stärke von Händelers Buch besteht darin, diesen sozial-kommunikativen Punkt stark zu machen. Ihm und anderen zufolge besteht der nächste große ökonomische Produktivitätsgewinn in der Verbesserung der sozialen Interaktion in Organisationen, insbesondere Unternehmen. Es ist auch ein sittlich relevanter Produktionsgewinn. Entscheidend ist an diesem Gedanken, dass sich dann das Prinzip des Kapitalismus, das Marx, Spencer und Kondratjew erfasst hatten, verändern würde: Der wirtschaftliche und soziale Fortschritt, jedenfalls das einigermaßen verträgliche Wohlergehen hinge insbesondere von sittlichen Standards ab. Das klingt irgendwie utopisch, ist es aber jedenfalls nicht stärker als dasjenige, was Marx behauptet hatte.
Im Unterschied zu vielen wirtschaftlichen Ansätzen ist diese Wirtschaftstheorie ethisch reflektiert, auch wenn sie in dieser Hinsicht noch nicht ausgearbeitet ist. Sie thematisiert explizit, wie gesellschaftliche Prozesse laufen können, was die Frage aufwirft, wie sie dann auch laufen sollen. Der kulturelle Kontext des Wirtschaftssystems wird explizit thematisiert, sodass auch andere Perspektiven als wirtschaftssteuernd oder jedenfalls -bestimmend in den Blick kommen. Auf unsere Debatten im Philosophie-Kurs hin formuliert: Die eigene Freiheit sollte kulturell genutzt werden, um entsprechende Rahmenbedingungen für das Wirtschaftssystem zu setzen.
Die von Peirce aufgestellte Konzeption der stets zu beachtenden möglichen Folgen eines Entwurfs oder einer Handlung werden prinzipiell berücksichtigt. Vor allem ist der Ansatz nicht-deterministisch, d. h., er ist freiheitsorientiert.