Der gestrige Tag hielt ab 9.37 Uhr eine positive Überraschung bereit: Ob Politiker Seelsorger/innen sein sollten, erörterten der Psychologe Maaz und der Pfarrer Gürtler im Gespräch mit Christiane Florin im DLF. Auch m. E. ist die Frage berechtigt, denn Gefühle bilden einen Aspekt beim Entstehen von Handlungen und Kommunikationen. Das ist seit der Antike bekannt – und der seit einiger beliebte Ausdruck „gefühlt“ im Unterschied zu „faktisch“ zeigt, dass dies in den Medien oft verdrängt wird. Die Frage, die gestern erörtert wurde, hatte freilich eine bestimmte Ausrichtung, die m. E. eher problematisch ist. Das war deswegen erträglich, weil der für steile verallgemeinerte (und empirisch wenig bestätigte) Hypothesen bekannte Maaz durch den aus der Bürgerrechtsbewegung stammenden Gürtler stark relativiert wurde. Das war so stark, dass Maaz nicht dazu kam, seine Hypothese über den aktuellen „Gefühlsstau“ auszusprechen, der die s. E. gefährliche Entwicklung seit einem Jahr ausgelöst hat. Ich ergänze das deswegen – und kann mir daher die Kritik zuziehen, dass er das alles schon mal gesagt hat, aber am 13.09. nicht wiederholt hat. M. E. macht seine Diagnose über Merkel und diejenigen, die mit ihr übereinstimmen, nur Sinn, wenn dieser Hintergrund unterstellt wird.
Maaz neigt dazu, gesellschaftliche Prozesse zu (psycho-)pathologisieren. Seit Januar bekämpft er die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin als narzisstisch, er ist ein großer Freund der „Argumente“ Seehofers, aber wie bei diesem ist die Unterscheidung zur AfD oder zu PEGIDA fließend[1]. Psychologisch führt er Merkels Entscheidung vor einem Jahr und deren breite Akzeptanz zunächst in größeren Teilen der Gesellschaft auf die narzisstische Haltung von Schuldbewussten zurück, die nicht diejenigen Probleme zu lösen versuchen, für die sie selbst verantwortlich sind. Unsere Gesellschaft sei durch Gier und Profitsucht bestimmt, das habe in vielen Ländern der Welt sehr starke Nebenwirkungen, die sich u. a. in Kriegen, großer Armut usf. niederschlügen. Für dieses implizite Wissen um die eigene Schuldverhaftung suchten Merkel und die „Willkommenskultur“ nach einer Ersatzbefriedigung, die freilich Züge einer narzisstischen Ersatzbefriedigung mit Selbstüberschätzung zeige.
Die angemessene Lösung bestünde Maaz zufolge darin, die Lebenslagen der Menschen in Afrika, dem Nahen Osten usf. zu erleichtern, was eben sehr viel Geld kosten werde. In diesem Punkt ist er nicht Anhänger der AfD, sondern durchaus ernstzunehmen.
Nur erklärt das nicht, was in der Situation vor einem Jahr geschehen musste. Die Regierung Orbán hat die Menschenrechte von Flüchtlingen verletzt – und darauf bezog sich die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin und des österreichischen Bundeskanzlers.
Maaz argumentiert mit der Kölner Silvesternacht, inzwischen kommen auch noch einzelne Ereignisse hinzu, in denen sich Flüchtlinge als IS-Sympathisanten herausgestellt haben.
Generell geht es aber um etwas anderes:
Dass Menschen Angst vor einer unkontrollierten Entwicklung, vor Fremden und krimineller Bedrohung haben, ist normal. Dass viele Menschen eine aufgezwungene Veränderung nicht wollen, dass sie Parallelgesellschaften ablehnen, dass sie kulturelle und religiöse Konflikte nicht wünschen, ist weder fremdenfeindlich oder rechtsradikal, noch rückschrittlich, sondern ihr gutes Recht. (Cicero-Artikel, Kommasetzung von Cicero)
Das sind also Sorgen und Ängste normaler Bürger/innen, sogenannte „besorgte Bürger/innen“ – die ihr „gutes Recht“ sind. Und Angela Merkel und diejenigen, die ihr folgen, leiden an einer „Normopathie“, wie Maaz’ Begriff für die beschriebene narzisstische Störung lautet. M. E. ist dieses Konzept selbstwidersprüchlich. Entweder sind die Flüchtlinge ein Problem, das auch durch die „normalen“ Bürger/innen ausgelöst ist – oder nicht. Dann sind die Einschränkungen, welche die „besorgten“ Bürger/innen hinnehmen müssen, gleich. Wenn Syrer/innen weiterhin in Syrien oder auch in der Türkei bleiben, dann ist es gut. Wenn sie aber hierher kommen, dann nicht:
Es macht den entscheidenden Unterschied, ob wir aus uneingestandener Schuld zulassen, dass unsere Gesellschaft durch die nicht gelöste Flüchtlingsproblematik zerstört wird oder ob wir aus notwendiger Erkenntnis unserer Fehlentwicklung alles tun, was möglich ist, um die Ursachen der Kriege und der Armut zu bekämpfen und die bedürftigen Menschen vor Ort zu versorgen. (Cicero-Artikel)
Natürlich ist die politische Wirklichkeit längst über diese Position hinweggegangen. Denn es kommen nicht mehr so viele Flüchtlinge – und die Bundesregierung ist bemüht, für afrikanische Länder eine ähnliche Lösung zu schaffen wie mit der Türkei. Die „besorgten“ Bürger/innen müssen also z. B. hinnehmen, dass für diese Länder Milliarden Euro ausgegeben werden müssen, was Merkel schon seit September 2015 sagt, sicher spät, aber immerhin.
Aus meiner Sicht ist Maaz’ Konzept daher undurchdacht.
Es wird darauf ankommen, dass das Konzept der „besorgten“ Bürger/innen von einer homogenen Gesellschaft als illusionär durchschaut wird, das Maaz teilt:
… wenn sie nicht bedenklich von narzisstischen Problemen behaftet wäre, zu glauben, dass Menschen mit hochproblematischen und kulturell und religiös verankerten Fehlentwicklungen in kürzester Zeit einen befreienden demokratischen Weg gehen könnten, um die die Europäer über Jahrhunderte blutige Kämpfe mit millionenfachen Verlusten ausgefochten haben. Die normopathische Störung, die ich unserer Gegenwartsgesellschaft bescheinige, verstehe ich als Folge reaktiver Schuldabwehr aus den zu verantwortenden Verbrechen der Vergangenheit und dem Wissen vom neuen „falschen Leben“ in einer Gesellschaft mit Profitzwang und materieller Gier. (Cicero-Artikel)
M. E. ist Maaz in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik noch nicht angekommen, diese ist nach Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung ein pluraler Staat, in dem es mehrere „Religionsgesellschaften“ gibt, auch nicht religiöse Weltanschaungsgemeinschaften. Dies ist in Art. 140 ins Grundgesetz übernommen worden.
Die Verfassung des Deutschen Reichs
Art 137(1) Es besteht keine Staatskirche.
(2) Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet. Der Zusammenschluß von Religionsgesellschaften innerhalb des Reichsgebiets unterliegt keinen Beschränkungen.
(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.
(4) Religionsgesellschaften erwerben die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechtes.
(5) Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Schließen sich mehrere derartige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften zu einem Verbande zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft.
(6) Die Religionsgesellschaften, welche Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, sind berechtigt, auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben.
(7) Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.
(8) Soweit die Durchführung dieser Bestimmungen eine weitere Regelung erfordert, liegt diese der Landesgesetzgebung ob.
Und die Entwicklung der katholischen Kirche in der Bundesrepublik zeigt, dass solche Prozesse keine Jahrhunderte dauern müssen. Es kommt dabei darauf an, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander Austausch haben. Soweit ich sehe, haben der von Maaz zustimmend erwähnte Sarrazin wie der ähnlich tönende Buschkowsky in Berlin diesen Austausch eher verhindert. Das kostet nämlich Geld und Mühe.
[1]Seehofers Argumente sind weitgehend widerlegt, daher hat Bayern auch nicht vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Dennoch werden sie etwa von der AfD immer wiederholt, witzigerweise gestern auch von Maaz. Es war z. B. keine einsame Entscheidung, der österreichische Bundeskanzler war ebenfalls beteiligt, Mitglieder des bundesdeutschen Kabinetts waren einbezogen – und gegen die Legendenbildung, die da schon länger unterwegs ist, wurde das sowohl im Bundestag als auch Bundesrat kritisch erörtert. Die Maßnahmen sind alle parlamentarisch bestätigt worden. Nach den geltenden Gesetzen gibt es ein Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik in Asylverfahren u. v. m. Maaz teilt mit Seehofer, der AfD u. a. die Einsicht, dass das Grundgesetz und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht im Völkerrecht verankert sei. Aber es ist dennoch der Fall – und Merkel hat es seit Juli 2015 durchaus gesagt. Schon in der Silvesteransprache 2014 hat sie sich zum Problem der „besorgten Bürger“ geäußert – und diese danken es ihr und Herrn Dr. Maaz, wie folgender Tweet belegt:
Update am 19.09.2016
Frau Dr. Merkel hat sich heute ausführlich angesichts der Wahlniederlagen bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin geäußert. Aus meiner Sicht hat sie alles Wesentliche gesagt, vor allem rechtfertigt sie ihre an den Menschenrechten orientierte Enstscheidung und konzediert, dass diese unerwünschte Nebenwirkungen wie Kontrollverlust zur Folge hatte.
References
1. | ↑ | (libellulafilm |