Charles Sanders Peirce (1839-1914)
Verehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie zur siebten Vorlesung. Gibt es noch Rückfragen zur letzten Vorlesung?
- Das Problem der Extravaganz
- Die Rede vom „Aufstehen des Menschensohns“ im Kontext von Mk 16,1-8: eine narrative Leerstelle als Raum für die Darstellung des Vertrauens auf das Evangelium
1. Das Problem der Extravaganz
Zunächst argumentiere ich für einen an Schleiermacher orientierten Hintergrund – und gehe dann auf den verwandten Ansatz von Charles Peirce ein, der dann m. E. einen plausiblen Vorschlag macht, wie doch einige religiöse Zeichenkomplexe zu verstehen sind. Es geht also hermeneutisch um ein Problem der Fremdheit der Zeichen.
Ich beginne wieder mit einem Schleiermacher-Zitat aus der Ethik, das meine Erwägungen stets angeregt hat:
Wie alles Wissen auf die Sprache, so lassen sich alle Actionen des subjectiven Erkennens auf die Kunst reduciren. Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt und die freien Darstellungen seiner Gefühlsweise, so wie sich auch jeder, dessen Darstellungen mit seinem Gefühl nicht mithalten kann, Darstellungen aneignen kann.[1]
Man darf wohl sagen, dass Schleiermacher „Kunst“ als Medium der Religion betrachtete und von den elementaren Äußerungen wie Seufzern, Weinen o. Ä. an alles berücksichtigen wollte, wie seine herrnhuterisch geprägten Texte in den Einleitungen zu den Glaubenslehren belegen. Das verfolgen wir gleich weiter.
Die Behauptung, dass das Wissen sein Medium in der Sprache habe, ist von Peirce bestritten worden. Ihm zufolge denken wir bildlich gleich gut – und wie es sich für einen Pragmatisten gehört, hat er gleich Verfahren entwickelt, die an Bastelarbeiten erinnern.[2] Damit hielt er fest, dass Denken auch einen stark sinnlichen Aspekt hat – und unsere mentalen Bilder beim Denken keine zu vernachlässigende Begleiterscheinung sind. Aber wenn man logische Operationen durch Ausschneiden darstellen kann, ist auch unser Tastsinn beteiligt.
Der Band von Stoellger/Klie führt darüber hinaus die empirische Tatsache ein, dass viele Wissenschaften mit bildgebenden Verfahren arbeiten[3], was m. E. ebenfalls Schleiermachers These relativiert.
Die These Schleiermachers, dass die Religion stark vom Gefühlsaspekt bestimmt sei, ist immer empirisch zu überprüfen, weil sie eine starke Allquantor-Behauptung ist – und man/frau alle religiösen Äußerungen überprüft haben muss, wenn sie oder er das mit großer Gelassenheit behaupten möchte. Heute werden wir aber einen Text kennenlernen, wo das Modell sinnvoll angewendet werden kann. Insgesamt kann behauptet werden, es liege im Neuen Testament eine starke Konzentration auf die παθήματα (pathemata), die Leidenschaften vor, wir werden das z. B. an der Bergpredigt sehen. Ich denke auch, dass die breite Konzentration auf die καρδία (kardia [das Herz]) sich wahrscheinlich ebenfalls so deuten lässt – was dann auch Rückschlüsse auf die LXX zulässt. Es könnte also sein, dass die Konzentration auf das σῶμα (soma), den Leib als Selbstverhältnis, die Bultmann vollzogen hat[4], stärker gefühlsorientiert interpretiert werden muss, Bultmann selbst war am Willen orientiert.
Schleiermachers Gefühlsthese ist aufschlussreich, weil dadurch ein zu stark intellektualistischer Umgang mit Religion eingeschränkt wird – und auch die These seines Berliner Kollegen Hegel, dass Vorstellungen, Bilder usf. im Begriff aufgehoben werden können, weil der Prozess des Geistes alle Stufen durchläuft, um schließlich im Begriff zu enden, als wenig sachorientiert erscheint. In der Hermeneutik rät er daher dazu, so viel wie möglich als bildlich zu bestimmen – und nicht vieles auf dogmatische Begriffe zu reduzieren.
Der Schleiermachersche Kunstschatz ist mithin durch viele individuelle Äußerungen bestimmt, sicher gibt es Typen und Stile, aber die Religion ist individuelles Bezeichnen, wie er seit 1816/17 sagt[5].
Schleiermacher versteht natürlich auch die Bibel so, sie ist ein solcher „Kunstschaz“, in dem einige ihre Gefühlsbestimmtheiten dargestellt haben. Praktisch-theologisch ist aber zu beachten, dass Schleiermacher von Theolog/inn/en erwartete, dass sie auf elementare Gefühlsäußerungen von Gemeindegliedern eingehen können.
So bietet sich schon in der Romantik ein Versuch an, Religion nicht über (Wissen)schaft zu denken – und sie auch nicht als Kindheits- oder Jugendalter der Wissenschaft zu begreifen.
Einen ebenfalls romantisch inspirierten Versuch hat auch Peirce vorgelegt:
Und was ist Religion? Sie ist eine Art Gefühlsregung in jedem einzelnen Menschen, oder auch: eine verborgene Wahrnehmung – eine tiefe Erkenntnis von etwas im uns umgebenden All; und wenn wir versuchen, diesem Gefühl Ausdruck zu geben, so wird es sich in mehr oder weniger extravagante Formen kleiden und als mehr oder wenig zufällig erscheinen, immer aber wird es sich zu einem Ersten und Letzten, dem Α (Alpha) und Ω (Omega), bekennen und in derselben Weise auf jenes Absolute bezogen sein, dem das individuelle Selbst eines Menschen als relatives Sein gegenübersteht. Doch Religion ist in ihrer Totalität nicht auf das einzelne Individuum beschränkt. Wie jede Gestalt von Realität ist sie wesentlich eine soziale und öffentliche Angelegenheit. Sie besteht in der Idee einer umfassenden Kirche, in der sich alle ihre Glieder zu einer organischen, systematischen Wahrnehmung der Ehre des Höchsten verbinden – einer Idee, die von Generation zu Generation wächst und einen Vorrang in den Entscheidungen über unser Verhalten, das private wie das öffentliche, beansprucht[6].
Der Text stammt vom Ende der 1870er Jahre und plädiert dafür, dass die Religion nicht versucht, ständig sich hinter den Entwicklungen insbesondere der Naturwissenschaften her zu differenzieren, weil Peirce der Meinung ist, dass die Naturwissenschaften am Ende mit der experimentellen Methode erfolgreich sein würden. Daher plädiert er dafür, das eigene Prinzip zu entdecken. Wie bei Schleiermacher bezieht sich die Religion auf das Universum bzw. das All. Ein Element dessen ist das Absolute, welches in der Religion verehrt wird. Die unterschiedlichen Formen der Religion tendieren zu einer Vereinigung, Peirce denkt dabei nicht nur an das Christentum, sondern er hat sich auch mit dem Neohinduismus auseinandergesetzt.
Peirce entstammte einer Ostküstenfamilie, sein Vater war der damals führende Mathematiker in den USA, seine Mutter führte einen romantischen Salon. Beides kommt bei Peirce zum Tragen, seine Relationenlogik wird die Grundlage seiner Semiotik[7] – und sie stellt bis heute ein konkurrierendes Modell zu den Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead dar, was dieser auch klar erkannt hatte. Aber zugleich war Peirce von den romantischen Ideen Ralph Waldo Emersons beeindruckt. Und so versuchte er beide Aspekte in seiner Arbeit zu verbinden. Diese Vielfältigkeit erklärt es wohl neben der Schwierigkeit der Relationenlogik, wieso Peirce vor allem in den Kulturwissenschaften rezipiert worden ist. Dabei steht an allererster Stelle Umberto Eco[8], der die Relationenlogik Peirce’ verstanden hat und ganz richtig in eine kommunikationsorientierte Erzähltheorie übersetzt hat, von der ich dankbar profitiert habe. Wer Ecos Roman „Der Name der Rose“ kennt, auch die Verfilmung, kann in William von Baskerville nicht nur „postmoderne“ Anspielungen auf William von Ockham und Sherlock Holmes erkennen, sondern auch auf Charles Sanders Peirce. Dabei drückt Eco erzählerisch seine Entscheidung aus, dass Peirce am besten nominalistisch gelesen werden müsse.
Wie Schleiermacher bezieht Peirce die Religion auf das Gefühl und nimmt an, dass dieses individuell geprägt ist. Wie Schleiermacher meint er, vor dem Hintergrund vieler individueller Äußerungen entstehe die Religion als öffentliche Sozialform, die sich auf das Absolute beziehe. Damit meint er nicht, dass religiöse Menschen anderen etwas vorschreiben könnten oder dürften. Sein Grundoptimismus bestand darin, dass diese individuell, romantisch geprägte Religion mit der Wissenschaft kompatibel sein würde. Wenn die Religion aufhört, bestimmte Behauptungen über den Prozess der Natur aufzustellen, die sich dann angesichts der experimentellen Methode nicht halten lassen, werde der Weg frei sein, dass auch Wissenschaftler/innen sich wieder den Fragen des Alls zuwenden würden, wie es bei Schelling angedeutet war. Peirce ist also naturphilosophisch einer der späten Verteidiger der Annahme der Romantiker gewesen, die Natur besitze eine eigene Potenz, wir haben das schon bei Schleiermacher gestreift.
Für uns ist wesentlich, dass er der erste mir bekannte Vertreter des Extravaganzkonzepts ist. Als Logiker sah er natürlich, dass religiöse Äußerungen nicht logisch genau und auch nicht empirisch durch die experimentelle Methode bestätigbar sind. Am Ende der 1870er Jahre stand das für ihn fest. Daher versuchte er, religiöse Äußerungen komplexer zu verstehen. Ein Motiv ist jedenfalls gewesen, dass Peirce die positivistische Bewegung zwar wissenschaftlich akzeptierte, aber einen starken Sinnlosigkeitsverdacht hegte. Man kann das mit Wittgenstein vergleichen, der zwar glaubte, mit dem Tractatus alle philosophischen Fragen logisch-mathematisch gelöst zu haben, aber zu den Lebensfragen trüge das nichts bei. Daher glaubte Peirce, dass in der Religion ein positives Potenzial schlummere, das aber poetisch usf. entfaltet werden müsse. Und so schlug er vor, dass Alltagskonzepte in öffentlicher Form irritiert würden – und die gefühlsorierentierten Menschen Alltagskonzepte neu fassen würden, womit sie ihre Wahrnehmung des Alls oder im All zum Ausdruck brächten. So würde der Alltag auf das Universum hin geöffnet, womit es möglich werde, dass positivistische und utilitaristische Verkürzungen vermieden werden können.
Alltagskonzepte oder gewöhnliche Konzepte werden in öffentlicher Kommunikation verfremdet bzw. irritiert, darin besteht die Ausdrucksform jener Wahrnehmung im All oder des Alls. Und das ist außergewöhnlich bzw. extravagant. Extravagante Rede oder solche Bezeichnungen kommen aus dem Alltag, aber irritieren alltägliche Zwänge oder Gewohnheiten – und eben Bezeichnungsweisen, die solche Zwänge und Gewohnheiten zum Ausdruck bringen. Dazu müssen diese in den Bezeichnungsprozessen aber indiziert bzw. repräsentiert sein.[9] Zunächst sind extravagante Bezeichnungen eher ein spontanes Phänomen – und niemand weiß zunächst, ob sie in stabile Kodierungen übergehen. Und solcher Art sind einige religiöse Äußerungen Peirce zufolge. Dieses Modell passt sehr gut zur hier angenommenen Methode der dynamischen Schriftauslegung, was jetzt vielleicht nicht mehr sehr überrascht.
2. Die Rede vom „Aufstehen des Menschensohns“ im Kontext von Mk 16,1-8:
eine narrative Leerstelle als Raum für die Darstellung des Vertrauens auf das Evangelium
Der folgende Text soll das Extravaganzkonzept exemplifizieren. Dazu sind recht umfangreiche Erwägungen über das Sprechen vom „Aufstehen“ bzw. „Aufgewecktwerden“ erforderlich. D. h., es ist ein jedenfalls knapper Überblick über diese Art des Sprechens und der eigentümlichen Bilderwelt unerlässlich. Und darin werden wir auch ein erstes Beispiel für Extravaganz finden. Denn diese Redeweise ist dem Judentum nicht schon immer geläufig, sie ist spontan entstanden.
1 Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, die Maria des Jakobus und Salome duftende Öle, um zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. 2 Sehr früh am Sonntag gingen sie zum Grab, als die Sonne gerade aufging. 3Da sagten sie zueinander: »Wer wird uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen?« 4Doch als sie aufschauten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war. Dabei war er sehr groß. 5Und als sie ins Grab hineingingen, sahen sie auf der rechten Seite einen jungen Mann sitzen, der ein strahlend helles Gewand trug. Da erschraken sie.
6 Der junge Mann sagte zu ihnen: »Ihr braucht nicht zu erschrecken! Ihr sucht Jesus aus Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist von den Toten „aufgeweckt“ worden, er ist nicht hier.
Seht den Ort, wo sie ihn hingelegt hatten. 7Nun aber geht hin, sagt seinen Schüler/inne/n, auch dem Petrus: Er geht euch nach Galiläa voraus; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat[10].«
8Und die Frauen gingen hinaus und flohen von dem Grab, denn sie waren außer sich geraten und zitterten.
Und sie sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich.[11]
Wie schon in der letzten Vorlesung betont, enthalten die Passionsgeschichten der Evangeliensammlung mythoi , die vom „Aufstehen“ bzw. „Aufgewecktwerden“ Jesu von Nazareth handeln, in Mk 16,1-8 die Erzählung vom „leeren Grab“, die stark in das Markusevangelium einbezogen ist. Ein wichtiger Aspekt dieser mythoi besteht darin zu erzählen, dass Gott sich mit dem grausamen Schicksal Jesu identifiziert habe. Zugleich aber bedeutet das für die Glaubenden bzw. Vertrauenden etwas – und dies zeigt sich in Mk 16,1-8 besonders gut.
Die narrativen Kerne der markinischen Passions- und Auferstehungserzählung (Mk 8,31; 9,31; 10,32-34) reden entsprechend durchweg vom „Aufstehen“ „des Menschensohns“.
10,33 »Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der *Menschensohn wird den Oberpriestern und Schriftgelehrten
übergeben werden. Die werden ihn zum Tod verurteilen und den
*Völkern überlassen. 34 Diese werden ihn verspotten, anspucken, auspeitschen und töten. Und nach drei Tagen wird er ‚aufstehen‛.«
Der aufgestandene „Menschensohn“ wird aber anders als in den anderen Evangelien der Evangeliensammlung nicht dargestellt, auf ihn wird erzählerisch nur indirekt verwiesen. Wer sich der Mühe unterziehen möchte, diese Redeweise zu verstehen, sollte einige Vorsichtsmaßnahmen beachten. Zunächst verdient Wittgensteins Hinweis Beachtung, dass Vorstellungen wie „Auferstehung“ bzw. „Auferweckung“ durchaus „Lebensregeln in Bilder gekleidet“ sein könnten. Sodann wäre an Wittgensteins Warnung zu erinnern, dass historische Unbezweifelbarkeit in derartigen Fragen vielleicht nicht nichts, aber doch eher wenig besagt. Schließlich sollte Peirce’ Erwägung Aufmerksamkeit finden, dass zumindest in einigen religiösen Äußerungen extravagante Darstellungsformen verwendet werden. Damit ist gemeint, dass ausgebildete Regeln öffentlicher Kommunikation in öffentlicher Kommunikation irritiert und umkodiert werden.
Einer solchen extravaganten Umkodierung verdankt sich schon ein wesentlicher Aspekt der apokalyptischen israelitisch-frühjüdischen Bilderrede von der Auferstehung der Toten. Sie bezieht sich bei ihrem mutmaßlichen ersten Auftreten in Jes 24-27 auf die Erzählungen vom kanaanäischen Wettergott Baal Zafon zurück[12]. Hatte dieser die Winterstürme und das andrängende Meer besiegt, so musste er in der Zeit der trockenen Hitze und der Getreidereife zum Todesgott Mot in die Unterwelt. Im Herbst, „wenn die Sonne über dem Meer Wasser zieht“[13], bringt seine Geliebte Anat den toten Baal mit der Hilfe von Schapschu, der Sonnengöttin, auf ihren Schultern aus der Unterwelt heraus, um ihn auf dem Gipfel des Bergs Zafon zu begraben. Und so setzt sich der Kreislauf fort. Dann wird Baal wieder lebendig. Entscheidend ist, wie Baal zu Mot kommt: Mot sagt:
Ich traf den mächtigen Baal. Ich steckte ihn rasch wie ein Lamm in mein Maul, wie ein Zicklein in meinen zuschnappenden Rachen – Verschlungen war er![14]
Darauf bietet Jes 25,6-8 ein umgekehrtes, umkodierendes Echo. Hatte der Todesgott Mot den Wettergott Baal verschluckt, so wird in den Tagen des eschatischen Freudenmahls der Gott Israels den Tod verschlucken:
Verschlingen wird er den Tod auf ewig. Und abwischen wird Gott, der Herr, die Tränen von jedem Antlitz und die Schmach seines Volkes von der ganzen Erde hinwegnehmen.
Im Kontext, in Jes 26,13ff, insbesondere in 26,19 wird dann das entscheidende Bildfeld kreiert:
Aufstehen werden die Toten, und aufgeweckt werden diejenigen, die in den Gräbern sind.
Dan 12,2f legt den Bildcharakter noch offener:
Und viele derjenigen, die in der Tiefe der Erde schlafen, werden aufstehen.
Dies ist mit einer weiteren Bildkomponente verbunden:
Die Weisen werden scheinen wie die Leuchten des Himmels … wie die Sterne des Himmels.
Ähnlich heißt es in Jes 26,19:
Denn Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Schatten wieder gebären.
Verschlingen, gebären und geboren werden, schlafen und aufstehen, lichtvoll benetzt werden, Leuchten in der lichten Welt Gottes: Das alles kann in unterschiedlichen Texten sehr verschieden ausgearbeitet werden. Darauf ist hier nicht einzugehen. Ich weise nur darauf hin, dass die Einleitung der Bibel solche Bilderrede nicht nur wahrschenlich macht, sondern m. E. explizit erlaubt bzw. fordert. Entscheidend ist, dass man/frau metaphorische bzw. symbolische Rede nicht mit festen Begrifflichkeiten und dogmatischen Konzepten verwechselt, sondern ihre Beweglichkeit und möglicherweise extravagante Konstitution im Auge behält. Schon die Veränderung der Zeichen „Aufstehen“ bzw. „Aufwecken“ oder „Aufgewecktwerden“ in der deutschen Sprache zu „Auferstehen“ bzw. „Auferwecktwerden“ zeigt diesen dogmatischen Prozess der begrifflichen Feststellung einer beweglichen Metapher bzw. eines beweglichen Symbols an.
Beachtet man diese Überlegungen, nähert man sich auch dem Sinn der Rede vom „Aufstehen des Menschensohns“, die in 16,1-8 anvisiert ist. Auch er hatte im Grab geschlafen, ist aufgeweckt worden und – mit der Zwischenstation „Galiläa“ – nun endgültig Teil der göttlichen Lichtwelt. Er sitzt erhöht zur Rechten der göttlichen Macht. Von dort wird er, wenn die himmlischen Lichter, Sonne, Mond und Sterne, verloschen sind, als einzige Lichtquelle auf den Wolken des Himmels kommen und die erfahrbare Geschichte beenden. So sagt es Mk 13, insbesondere 24-27. Sein indirekter Repräsentant ist jener junge Mann mit dem strahlenden weißen Gewand im leeren Grab, das ihn als Teil der lichten Welt Gottes ausweist. Aus der apokalyptischen Bilderwelt sind mithin die Aspekte „göttliche Lichtwelt“ und „Schlafen“-„Aufstehen“ bzw. „Aufgewecktwerden“ rezipiert. Die Frage ist freilich, wie diese Bildelemente rezipiert sind. Denn Bedeutung konstituiert sich im konkreten Gebrauch.
Die Standardantwort auf diese Frage dürfte lauten: Die Ereignisse um Jesu Tod wurden im Lichte der apokalyptischen Bilderwelt gedeutet. Doch so sehr dies für einige frühchristliche Texte gelten mag, so wenig wird dies dem Befund von Mk 16,1-8 vollkommen gerecht. Von (Licht-)Erscheinungen des Aufgestandenen, die als Visionen aufzufassen sind, ist ja bei Mk gerade nicht die Rede. Und auf derartige – mehr oder weniger psychologisch erklärbare – visionäre Erlebnisse wären dann apokalyptische Kodierungen angewendet worden. Mehr noch: Die merkwürdige Redeweise: „Sagt seinen Schüler/inne/n, auch dem Petrus …“ in 16,7a deutet darauf hin, dass der Erzähler zwar Erzählungen von Erscheinungen des Aufgestandenen kennt, diese aber für seinen erzählerischen Zweck als ungeeignet ansieht. Denn in der Redeweise „seinen Schüler/inne/n, auch dem Petrus“ steckt eine logische crux, die rhetorisch interpretiert werden muss. Petrus gehört nun einmal zu Jesu Schülern. Wieso also dann: „seinen Schüler/inne/n, auch dem Petrus“? Mit dieser logischen Härte will der Erzähler offenbar auf eine herausgehobene Stellung des Petrus aufmerksam machen[15]. Diese beruht nach einer Reihe von frühchristlichen Texten – insbesondere bei Paulus und Lk – auf seiner Funktion als „erster Osterzeuge“, wie man zu sagen pflegt. Der aufgestandene Herr erschien einigen Texten zufolge Petrus als Erstem. Dann erst anderen. Im vielstimmigen und widersprüchlichen Konzert der frühchristlichen Auferstehungstexte zeigt sich in Mk 16,1-8 eine unverwechselbare, ungewöhnliche Stimme. Mk negiert offenkundig jene Tradition, in der Petrus als erster Osterzeuge verstanden wird. Aber er wählt – anders als Mt, Joh und der unechte Markusschluss in 16,9-20 – nun nicht den Ausweg Frauen als erste Osterzeuginnen einzusetzen. Dies wäre noch auf derselben Ebene angesetzt: wenn nicht dem Petrus, dann eben den bzw. einigen Frauen oder nur Maria, der Magdalenerin – ein für die christliche Faszinationsgeschichte bis in die Gegenwart wirkmächtiger Erzählzug. Getreu seiner Erzählweise wählt Mk stattdessen einen extravaganten Weg. Er repräsentiert in seinem Text die von ihm ausgeschlossene Tradition von Petrus als dem ersten Osterzeugen, gibt mithin zu verstehen, dass er Erzählungen von Erscheinungen des Aufgestandenen vor Petrus und den anderen Schülern kennt. Aber er verwendet diese narrative Reminiszenz zum Aufbau einer narrativen Leerstelle. Da die Frauen niemandem etwas sagten, haben die Schüler und Petrus möglicherweise nichts davon erfahren, dass Jesus in Galiläa auf sie wartete und ihnen erscheinen wollte. Oder genauer: Diese Erzählungen von Erscheinungen des Aufgestandenen sind ungeeignet, um von der Fragilität des existenzbestimmenden Vertrauens auf das Evangelium zu reden. Sie sprechen nicht angemessen davon. Mehr als jenen jungen Mann im Grab mutet der Erzähler den Lesenden bzw. Hörenden nicht zu. Er mutet stattdessen den Lesenden bzw. Hörenden lieber zu, dass die Botschaft des jungen Manns aus der göttlichen Lichtwelt kein Gehör findet, sondern im Schweigen und der Furcht untergeht. Kunstvoll kehrt der Erzähler einen Topos seiner Erzählung um: Während häufig Jesu Schweigegebote scheitern, weil geredet wird, obgleich geschwiegen werden soll, ist jetzt das Gegenteil der Fall. Hier soll geredet werden, aber nun wird geschwiegen (vgl. 9,9-13).
Damit dürfte sich der Sinn des extravaganten markinischen Erzählens erschließen. Der Text inszeniert sich als Text über Texte, als selbstreferenzieller Text über das Erzählen des Markusevangeliums. Da die Frauen niemandem etwas sagten, wirft dies die ganz elementare Frage auf, wie dann der Erzähler von jenen Ereignissen etwas wissen konnte? Die Frage ist leicht beantwortbar, wenn man unterstellt, dass es hierbei gar nicht um den Typ historischen Wissens geht. Sondern der Erzähler führt die Lesenden bzw. Hörenden vor ein kommunikatives Paradox[16], dem sie sich nur durch Ebenenwechsel entziehen können. Dieses kommunikative Paradox fungiert mithin als Fiktionssignal. Wer den Text als Bericht lesen möchte, steht vor einem unauflöslichen Rätsel. Durch Einbezug der Lesenden bzw. Hörenden, den offensiven Appell an ihre kritische Mitarbeit, weist der Text weg von seinem Missverständnis als geschichtlichem Bericht. D. h.: Es geht nicht um den Typus historischen Wissens, sondern um die Selbstreferenz eines rhetorisch-poetischen Entwurfs, der sich schriftlich mitteilt. Und dieser poetische Entwurf trägt der Einsicht Rechnung, dass „die [sc. historische] Unbezweifelbarkeit … nicht ausreichen (würde), mein ganzes Leben zu ändern“. Wieder in der Sprache der Erzählung formuliert: Auch wenn Petrus und die anderen Schüler nach Galiläa gegangen wären, wäre es alles andere als sicher gewesen, dass sie in existenzbestimmender Weise auf das Evangelium vertraut hätten. Göttliche Lichtgestalten provozieren keineswegs zwingend solches Vertrauen[17]. So erfuhr es Mk 9,2-8 zufolge schon auf dem Berg der Verklärung der in seine himmlische Lichtgestalt verwandelte Jesus in Anwesenheit der entrückten Mose und Elia[18]. Man kann solchen Lichtgestalten durchaus Unverständnis, vor allem aber Furcht im Sinne existenzieller Verschlossenheit entgegenbringen. Und dem jungen Mann mit dem strahlenden weißen Gewand ergeht es ebenso.
Die Flucht der Frauen, die Jesus am längsten nachgefolgt waren, stellt eine narrative Wiederholung der Flucht der männlichen Schüler bei der Verhaftung Jesu dar (vgl. Mk 14,50). Beidemal ist Furcht der Hintergrund. Es ist die Furcht, welche die Kreuzesnachfolge auslöst. Die Frauen freuen sich nicht, obgleich das Aufgewecktsein eines Gefolterten und Ermordeten gewöhnlich ein Grund zur Freude sein könnte. Doch wie die Schüler fürchten sich auch die Schülerinnen, davor, dass die Kreuzesnachfolge weitergeht (vgl. Mk 8,34-38).
Die letzte Szene des Markusevangeliums hält auf erzählerisch schwer überbietbare Weise fest, dass Evangeliumskommunikation zerbrechlich ist. Sie scheitert nicht selten an festgelegten Resonanzen. Eben dies war schon die Botschaft von Mk 4. Jesus saß im Boot auf dem See, seine Schüler/innen waren bei ihm. Am Ufer hörte die Volksmenge zu, wie Jesus von der Gottesherrschaft und dem Evangelium in parabolai sprach. Den Schüler/inne/n legte er sie jeweils aus. Dann legte er sich im Boot ganz ruhig schlafen und ordnete die Überquerung des Sees an. Ein Sturm kam auf, die Schüler/inne/n gerieten in Furcht – und weckten Jesus aufgeregt auf. Er stillte den Sturm und kritisierte sie folgendermaßen:
Was seid ihr [so] furchtsam?
Habt ihr noch kein existenzbestimmendes Vertrauen (pistis)?“
Und sie fürchteten sich mit großer Furcht (fobos)
und sagten zueinander:
„Wer ist dieser,
dass sowohl der Wind
als auch der See ihm gehorchen?“
(Mk 4,40f)
Diese Fixierung auf die Furcht und seltene spontane Ereignisse des Vertrauens hat sich als der harte Kern der markinischen Erzählung gezeigt. Das Prädikat Evangeliumskommunikation bildet seit Mk 1,14f den narrativen Topos, vor dessen Hintergrund sich die einzelnen Szenen erzählerisch entfalten. Dabei geraten Wahrnehmungs- und Verstehensprobleme in den Vordergrund der markinischen Aufmerksamkeit. Wie die Antiklimax in 16,8 mit der Betonung der Furcht allerdings metakommunikativ mitteilt, ist aus der inszenierten Erzählperspektive die Resonanzebene bzw. die Einverständnisebene von Evangeliumskommunikation ausschlaggebend. Sie wird durch die gefühlszentrierten Selbstverständnisse der πίστις (pistis) und des φόβος (fobos) markiert, die mit den Problemen von Herrschaft, Reichtum einerseits, göttlicher δύναμις (dynamis, Macht) andererseits in Kontakt gebracht werden. Auf diese Weise entwickelt das Panorama von Mk 4 ein reicheres Bild. Mk reflektiert erzählerisch nicht „nur“ lebensbestimmende Gefühle. Diese sind freilich asymmetrisch als fundamentale „Zwischenbestimmungen“ der Evangeliumskommunikation verstanden. Fobos und pistis gehen in differenzierte Handlungen und Reflexionen über. Wer von der spontanen pistis „getragen“ wird, wie ein Gelähmter, dessen Begleiter das Dach des Hauses aufgraben, in dem Jesus lehrt (vgl. 2,3-5), überwindet selbst unüberwindlich scheinende Hindernisse wie die blutflüssige Frau (vgl. 5,25-27). Wer jedoch vom fobos „gelähmt“ ist, wie die Jesus missbilligend beobachtenden Schriftgelehrten (vgl. 2,6f), bleibt auf seine Herrschaftsperspektive (vgl. 6,14-29 u. ö.) eingeschworen wie Herodes oder vermag sich nicht von seinem Reichtum zu trennen wie ein gesetzestreuer Mann (vgl. 10,17ff), so aktivistisch sich seine scheinbare Überlegenheit auch zeigen mag wie Priestern, Ältesten und Schriftgelehrten (14,1ff). Hinter dem Rücken der solcherart Agierenden vollzieht sich die dialektisch konzipierte Rettung: Derjenige, der als Protagonist der markinischen Erzählung als Inbegriff von pistisundfobos – wie die Gethsemaniszene zeigt – (vgl. 14,32ff) zu verstehen ist, vereinigt zugleich höchste Macht (vgl. 8,34ff; 13,24ff) und Ohnmacht (vgl. 8,31-33 u. ö.). Er wird gewaltsam getötet und partizipiert dennoch an der göttlichen Lichtwelt. „Der Menschensohn“ rückt im Markusevangelium nicht zuletzt deswegen in das Zentrum des erzählerischen Interesses, weil durch diese Erzählfigur Armut und Reichtum von Evangeliumskommunikation dargestellt werden können. Mit dieser Figur kann aber auch die sehnsuchtsvolle Hoffnung auf die Wahrheit von Evangeliumskommunikation in den geschichtlichen Wirren erfasst werden (Mk 13). Nicht zuletzt integriert sie die Zeitebenen der markinischen Erzählung und damit die qualitativ bestimmte Zeit der zerbrechlichen Evangeliumskommunikation.
Verehrte Damen und Herren,
ich fasse zusammen:
- Schleiermacher und Peirce setzen inspiriert (auch) durch den jeweiligen romantischen Horizont am Gefühl als wesentlichem Aspekt in der Religion an. Peirce hat mit dem Extravaganzkonzept ein Modell geliefert, das alltagsnah operiert, aber den Alltag auf das Universum bezieht. Es lässt sich auch als plausibles Modell verwenden, um Transformationen im Religionssystem zu beschreiben.
- Das habe ich an der israelitisch-frühjüdischen Bilderrede vom Aufstehen und Aufgewecktwerden zu zeigen versucht. Im Kontext von Mk 16,1-8 wird es verwendet, um die Erscheinungen des Aufgestanden zugleich indirekt repräsentieren zu können, zugleich aber auch festhalten zu können, dass ihre direkte narrative Präsentation das Problem der Zerbrechlichkeit der Evangeliumskommunikation (triumphalistisch [?]) verdunkeln könnte. Möglicherweise ist das also ein Fall davon, was die phänomenologische Rede von der „Präsenz im Entzug“ besagen soll.[19]
[1] Vorlesung I (Anm. 3), 122 (§ 213). Vgl. Martina Kumlehn, Bild und Bildung. Zur ästhetischen Dimension allgemeiner und religiöser Bildung, in: Stoellger/Klie, Vorlesung VI (Anm. 2), 389ff.
[2] Semiotische Schriften III, 2003. Instruktiv ist die Einleitung des Hg. Helmut Pape.
[3] Stoellger/Klie, Vorlesung VI (Anm. 2), 447ff.
[4] Vgl. Vorlesung III.
[5] Vorlesung I (Anm. 3), 293ff. Leider ist nur der allgemeine Teil erhalten.
[6] Peirce, Religionsphilosophische Schriften, 2005, 208f.
[7] Vgl. die Einleitungen von Pape in: Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Vorlesung I) und in Peirce, Semiotische Schriften I, 1986.
[8] Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, 1990 (dtv 4531).
[9] Zu den allgemeinen Voraussetzungen vgl. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen (Vorlesung I), 51ff.54ff. Vgl. auch ähnlich Michael Moxter, All at once? …, in: Stoellger/Klie, Vorlesung VI (Anm. 2), 129ff.
[10] Nämlich in Mk 14,28. Man/frau sieht, dass dieser Text eigentlich kaum unabhängig existiert haben kann, sondern eher als Schlusspunkt des Markusevangeliums konzipiert ist.
[11] Irene Dannemann, in: Bibel in gerechter Sprache, z. St. (leicht angepasst).
[12] Vgl. zur Sache Otto Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des AT 1, 109.144. Allgemein orientiert Oswald Loretz, Ugarit und die Bibel. Kanaanäische Götter und Religion im Alten Testament, 1990, 73ff.
[13] Kaiser (s. Anm. 12), 109.
[14] Übersetzung: Ugaritische Texte, übers. von K.-H. Bernhardt, in: W. Beyerlin (Hg.) Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, 1975 (GAT).
[15] Vgl. Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 1996, 434.
[16] Vgl. die Ansätze zu einer solchen Interpretation bei Theißen/Merz (Anm. 15), 429
[17] Auf seine – dualistisch grundierte – Weise hält auch Mt diese markinische Pointe in Mt 28,17 fest.
[18] Religionsgeschichtlich zeigt sich hier, dass es von „Entrückung“ zu „Aufstehen“ bzw. „Aufwecken“ nur ein kleiner Schritt ist (vgl. auch die instruktive Stelle Ps 49,15f, wo von einer Entrückung aus der Unterwelt die Rede ist).
[19] Vgl. Stoellger/Klie, Vorlesung VI (Anm. 2).