Inhaltsverzeichnis
2 Die Beiträge Barths und Bultmanns
4. Rückfragen
Das Handout der Vorlesung befindet sich hier.
1 Einführung
Magdalene Frettlöh ist heute reformierte Dogmatikerin in Bern. Zugleich ist sie eine begabte Alttestamentlerin oder besser: Biblische Theologin, die zwar der Schule Karl Barths entstammt, aber äußerst offen denkt und der Philosophie etwa Derridas und Lévinas‘ nicht abgeneigt ist. Ich sage das nur deswegen, weil das oft von Barthianer/inne/n nicht erwartet wird. Vor allem spricht sie eine angenehme Sprache und formuliert elegant.
Mit ihr hat die evangelische Theologie jetzt eine Professorin, die aus der wilden Zeit des Geschlechterkampfes in den 1980er und z. T. noch 1990er Jahren stammt, den Geschlechterdiskurs also selbst mitgestaltet hat – und in ihrer Habilitationsschrift einen Vorschlag bzw. Bausteine zu einer geschlechtergerechten Gotteslehre vorgelegt hat[1]. In der letzten Vorlesungsstunde wurde nochmals das Problem der Disziplinen aufgeworfen, wie sich etwa Exegese und Dogmatik verhielten. Bei Frettlöhs Entwurf liegt ein Beispiel vor, wie heute innerhalb der Dogmatik oder Systematischen Theologie Glaubenslehre im Sinne Schleiermachers betrieben werden könnte. Wie Christine Janowski schon zuvor thematisiert sie den feministischen Diskurs und unterscheidet entsprechend zwischen innertheologischem und außerhalb der Theologie stattfindendem Diskurs. Zugleich beschreibt sie viele dogmatische und christlich-religiöse Positionen der jüngeren Geschichte und der Gegenwart – sodass ein Panorama des Geschlechterdiskurses vor allem im Protestantismus entsteht, wobei sie meint, das ließe sich ökumenisch erweitern[2]. Aus heutiger Sicht wäre das vielleicht noch durch Stimmen protestantischer und auch katholischer Frauen zu ergänzen, die dem Geschlechterdiskurs kritisch gegenüberstehen, wie Beatrix von Storch. Der religionsphilosophische Diskurs sollte sich m. E. nicht vor allem auf das Judentum beschränken.
Wichtig daran ist, dass sie mit z. T. kreativen exegetischen Beiträgen das Prä der biblischen Texte festhält, wobei sie anders als Schleiermacher meint, dass die Heiligen Schriften der Juden und Jüdinnen auch inhaltlich etwas zu eigentlich christlichen Glaubensätzen beizutragen hätten[3]. Anders als manche andere aber ist sie dezidiert christliche Theologin geblieben.
Wir werden sehen, dass Frettlöh auch wieder den Diskurs Bultmanns aufnimmt. Aber die Vernachlässigung der Geschlechterfrage war einer der Gründe, warum Bultmann seit einiger Zeit weniger beachtet wurde. Seit den 1968er Jahren standen Fragen der Menschenrechte vor dem Hintergrund im Vordergrund, dass viele konservative Protestant/inn/en in der Weimarer Republik gegen die Trennung von Staat und Kirche opponierten. Denn u. a. Ernst Troeltsch hatte dafür gesorgt, dass seit der Weimarer Verfassung Religionsgemeinschaften sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisieren können (Art. 137). Das traf die konservativen Protestant/inn/en hart, denn der Protestantismus war im Preußischen Reich und dann im deutschen Kaiserreich zur Reichsreligion geworden, wobei ein „Kulturkampf“ gegen den Katholizismus geführt wurde – und nicht zuletzt der Antisemitismus protestantisch stark bedient wurde.
Das wurde also seit den 1968er Jahren aufgearbeitet und dann trat auch wieder die Frage der Gleichberechtigung der Frauen in den Vordergrund der Aufmerksamkeit – und die Fragen Bultmanns wurden außer Acht gelassen.
Das war natürlich unbesonnen. Denn der Ansatz der Dialektischen Theologie bestand darin, sich über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Rede von Gott Rechenschaft abzulegen – und diese Frage betraf immer auch die biblischen Texte, ob sie angemessen von Gott reden oder nicht – bzw. wie überhaupt diese Frage gestellt werden muss.
Frettlöh sieht mit Recht, dass auch die Fragen der geschlechtergerechten Rede von Gott mit den Fragestellungen der Dialektischen Theologie bearbeitet werden müssen bzw. jedenfalls können.
2 Die Beiträge Barths und Bultmanns
In der Gotteslehre ist oft eine zentrale Eigenschaft Gottes die „Herrlichkeit“, welche auf die Übersetzung von כָבו֗ד (kavod) zurückgeht. Auch der griechische Ausdruck δόξα (doxa), der kavod in der LXX oft wiedergibt, wurde entsprechend übersetzt, allerdings nicht immer (z. B. Luther in Lk 2,8: „Klarheit“). Aber die „Herrlichkeit“ hat sich in Gemeinden festgesetzt, wie ich aus meiner Erfahrung mit den Ehrenamtlichen der Badischen Landeskirche, aber auch aus meiner Predigtpraxis in Darmstadt-Griesheim weiß. Frettlöh weist zudem auf die Gesangbücher hin. Für die feministische Debatte war die „Herrlichkeit“ kein unwichtiges Thema[4], zumal die Hebräische Bibel das Tetragramm יהוה (JHWH) wie adonaj vokalisiert (יִֽהְיֶ֣ה) und die LXX das mit κύριος (kyrios) wiedergibt, was in der Lutherbibel mit „Herr“ übersetzt wird. Es handelt sich nach feministischer Lesart um eine männliche Gottesbezeichnung und das wird kritisiert, ebenso die Eigenschaft „Herrlichkeit“. Dies war schon lange ein Punkt in der feministischen Kritik, der mir eingeleuchtet hat.
Ich habe das jetzt ausführlicher präsentiert, um Frettlöhs kreatives Vorgehen zu profilieren. Sie versucht zu zeigen, dass כָבו֗ד (kavod) anders übersetzt werden kann bzw. muss. Im Anschluss an Gerhard von Rad[5] schlägt Frettlöh vor, kavod mit „Gewicht“ zu übersetzen, was die existenzielle Bedeutung, z. T. auch bedrängende Begegnung mit Gott bezeichnen soll, zu der man/frau eine Stellungnahme abgeben sollte – eine Metapher aus dem Bereich der Schwerkraft, was sich auch mit dem Vorschlag deckt, vom „der Welt Raum geben“ seitens Gottes zu sprechen. Für Frettlöh ist kavod ein exemplarischer Fall, weil das Lexem sehr oft durch „Herrlichkeit“ androzentrisch übersetzt wird, was sie später in aktuellen dogmatischen Entwürfen verfolgt[6]. Aber sie hält fest, dass es nicht ausreicht, einfach anders zu übersetzen, sondern sie fragt nach den hermeneutischen Prinzipien, wie geschlechtergerecht von Gott geredet werden kann. Dazu muss es in der Bibel selbst Ansatzpunkte geben – und die sieht sie in der Verwendung der Rede von den Bildern Gottes gegeben. Wie Bultmann vertritt sie also die Überzeugung, dass Sachkritik nur dann erlaubt und sinnvoll sei, wenn es in der kritisierten Textwelt schon Ansatzpunkte gibt. Denn die feministische Kritik ist Sachkritik an einer eher androzentrischen biblischen Rede von Gott, für Frettlöh ist die gynozentrische Rede aber nicht zwangsläufig besser.
„Geschlechtergerechte Rede von Gott“ und „Bilderverbot“ hängen i. E. biblisch stark zusammen. In Ex 20,1-5 wird untersagt, dass die Israelit/inn/en sich ein Bild von Gott (menschlich, tierisch usf.) machen, wobei auf die Praxis der umliegenden Religionen angespielt wird, die entsprechende Statuen oder bildliche Darstellungen von Göttern und Göttinnen verehrten bzw. die rituelle Identifikation solcher Statuen mit den entsprechenden Gestirnen vollzogen. Zugleich und im Widerspruch dazu aber hat Gott tatsächlich Bilder, nämlich die verschiedengeschlechtlichen Männer und Frauen (Gen 1,26f). Denn die Menschen („der Mensch“) we/i/rd/en „im Bild“ (בְּצַלְמֵ֖נוּ [bezalmeno (in unserem Bild]) bzw. besser „nach“ dem Bild Gottes (sc. dem Bild Gottes entsprechend wie die LXX übersetzt [κατ᾽ εἰκόνα ἡμετέραν (kat’ eikona hemeteran)])“, das diese/r von sich selbst hat, geschaffen (vgl. auch Gen 5,1f). Es ist eine Stärke des Entwurfs von Frettlöh, dass sie darauf aufmerksam macht. Das Bilderverbot findet insoweit Anwendung, dass andro- oder gynozentrische Bilder für Gott nicht verwendet werden dürfen. Gleichwohl erlaubt Frettlöh Metaphern, wobei sie sich dazu an dem analogen Modell von Jüngel in „Metaphorische Wahrheit“ (1974/1980) orientiert.
Dass dies erlaubt ist, wird seitens Frettlöh durch die Position Barths begründet, wir könnten nicht von Gott reden, aber müssten es dennoch tun. Das wird durch den Begriff der Ähnlichkeit (וּ כִּדְמוּתֵ֑נ[kidmotenu])[7], genauso in der LXX, gerechtfertigt. Die Kombination bzw. differenzielle Einheit von Männern und Frauen ist dem Bild Gottes ähnlich, insofern dürfen Menschen metaphorisch von Gott sprechen oder ihn bzw. sie in anderen Zeichenformen darstellen, aber diese Zeichenformen nicht als göttlich verehren, sondern sie sind stets als unzureichende zu Bezeichnungen verstehen. Sie weitet das Bilderverbot also als hermeneutisches Prinzip aus, was m. E. legitim ist. Sie bezieht sich auf Hans Belting und Max Frisch, die beide eher davon überzeugt sind, das man dasjenige nicht bildlich darstellen kann, was einen selbst existenziell betrifft.
„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“[8] (Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie)
Diese klassische Position der Dialektischen Theologie wendet sie auf das geschlechtergerechte Reden von Gott an. Dabei versteht sie „Gott die Ehre“ geben“ im Sinne als einen der Interpretanten von כָבו֗ד. Wichtig ist aber die Dialektik von „Nicht-Können“ und dennoch „Müssen“. Theolog/inn/en haben es also schwer, eine Folge des Gewichts Gottes, wie sie ihre Interpretation von כָבו֗ד fortschreibt. Die Metaphern, die das ermöglichen, sollten eben aus männlichen und weiblichen Lebenswelten entstammen – und sie ist recht scharf bei Theologen wie Klaus Berger und Wilfried Härle, die mehr oder weniger geistreiche Argumente vortragen, wieso männliche Metaphern geeigneter für die Rede von Gott seien,[9] weiter aber folgt sie dem seit der Romantik bestehenden Diskurs, dass die Geschlechter ineinander übergehen, wobei der lebensgeschichtliche Kontext ausschlaggebend ist. Vor allem mit Lévinas betont sie die Alterität der Menschen, dass wir immer auch anders als andere sind – ein traditionelles Thema des Protestantismus seit Schleiermachers Reden Über die Religion. Damit werden Minderheitenpositionen wie diejenige der männlichen und weiblichen Homosexuellen und diejenige der Transsexuellen ohne Schwierigkeiten einbezogen. Hermeneutisch taucht bei ihr mithin (implizit) das Problem der Fremdheit der Zeichen, die eines der Hauptthemen der Kunstlehre des Verstehens ist, auf – und wird bei Gott lokalisiert. Gott ist die/der ganz Andere, so wird Frettlöhs theologischer Urgroßvater in den geschlechtergerechten Diskurs einbezogen – und m. E. durchaus angemessen interpretiert, sicher besser verstanden, als Barth seine Rede selbst verstanden hat, um es mit Schleiermacher zu sagen[10]. Interessant ist ihre Relektüre von Barths Bezugnahmen auf und Interpretationen von des Kampfes Jakobs am Jabboq (Gen 32), bei dem Jakob mit Gott ringermäßig kämpft, den Segen bekommt, aber in der Folge hinken muss. Barth und Frettlöh lesen das als paradigmatische Geschichte theologischer Existenz[11]. Da der Text in der Präkanonischen Edition steht, handelt es sich um einen mythos und zwar einen der Art der Problemgeschichte, wie wir sehen werden.
An Barth ist wichtig, dass er keine Rede von Gott für unproblematisch hält, auch keine biblische. Zugleich betont er aber, dass Gott sich derart aufdrängt, dass Menschen von ihm reden müssen – und dass lässt sich feministisch-theologisch rekonstruieren. Es ist aber kein Zufall, dass Frettlöh sich demjenigen exegetisch-theologischen Entwurf zuwendet, der – wie viele in Marburg geglaubt haben – anders als Barth den dialektischen Ansatz lebenslang vertreten hat, eben Rudolf Bultmann. Frettlöhs Interpretation zeigt aber, dass das wohl nicht berechtigt war.
„… will man von Gott reden, muss man offenbar von sich selbst reden.“[12] (Welchen Sinn hat es von Gott zu reden)
Wie wir in der letzten Vorlesung gehört haben, kann man von Gott nicht objektivierend im Sinne der experimentellen Methode reden, dies wäre ein Reden über Gott, das wäre, als könne man/frau
„von Gott in allgemein gültigen Sätzen und Wahrheiten sprechen … Ein Reden von Gott kann es – so hält Bultmann dieser unverbindlichen Gottesrede entgegen – immer nur als ein Reden aus Gott geben, nämlich als ein von Gott selbst gegebenes Reden, als Antwort auf die von Gott an uns ergehende Anrede, in Bultmann’scher Terminologie: als Gehorsam gegenüber der Bestimmtheit unserer Existenz durch Gott.[13]
Bultmann vertritt also zweierlei:
Ernsthafte Rede von Gott kann nur als Reden aus Gott geschen. Und Frettlöh erkennt hier ganz leicht, dass auch Bultmann „Gott Gewicht“ gibt, also dem כָבו֗ד (kavod) Gottes gerecht zu werden versucht. Ebenso richtig beschreibt sie Bultmanns Ablehnung der etwas kurzschlüssigen Selbstthematisierung in der liberalen Theologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
„Der existenzielle Bezug unserer Gottesrede meint nun aber keineswegs, dass wir eigene Erlebnisse und innere Befindlichkeiten zum Inhalt unserer Gottesreden machen und daraufhin uns Gottes vergewissern und trösten sollen. Das »Von-Gott-Reden« als »Von-sich-selbst-Reden« widerspricht der Anerkennung Gottes als des ganz Anderen, der mir gegenüber, ja auch entgegensteht, gerade nicht, sondern entspricht ihr, indem es dem Anspruch Gottes an uns antwortend stattgibt. In leidenschaftlicher Redlichkeit und Nüchternheit schärft Bultmann hier ein, dass abgesehen von dem auf unsere Existenz erhobenen Anspruch Gottes ein Reden von Gott überhaupt nicht möglich ist, denn von Gott können wir nur reden, wenn wir von Gott reden müssen. Dieses Müssen gründet in der unwiderstehlichen Attraktivität der göttlichen Anrede, auf die nicht zu antworten nicht möglich ist. Es realisiert sich als »freie Tat«, als »Gehorsam‹.“
Ich hatte daraufhin gewiesen, dass uns stets Selbst- und Existenzverständnisse anderer Menschen vorliegen, die uns möglicherweise anziehen. Und wenn wir uns angezogen sein lassen, dann könnte Gott geredet haben. Frettlöh entschärft das und versucht es vor plumpen Missverständnissen zu bewahren:
„Bultmanns Beharren auf dem existenziellen Angesprochensein als Vorgabe menschlichen Redens von Gott hat – das darf angesichts des appellativen Tons, der aus diesem Text spricht, nicht übersehen werden – zuerst eine entlastende Funktion: Sowenig es in das eigene Ermessen und Belieben gestellt ist, wann ich von Gott reden kann, weil mein Reden dem fremden Anspruch nur antworten kann, mehr noch: weil ich erst aus der Sünde eines selbstkonstituierten und darum die Wirklichkeit Gottes notwendig verfehlenden zu einem dieser Recht gebenden Reden befreit werden muss, sowenig kann ich meinem Reden von Gott selbst Sinn einstiften oder für seine Wirksamkeit und Überzeugungskraft, gar für seine Wahrheit einstehen. Unser Reden von Gott als Reden von uns selbst entzieht sich unserer Verfügung. Es bedarf, weil es das Reden von Menschen ist, die dazu neigen, über Gott und über sich selbst zu reden, der Rechtfertigung durch Gott selbst. Diese Einsicht macht es zu einem bescheidenen Reden.“
Sehr richtig präsentiert Frettlöh Bultmanns Pointe, dass mir prinzipiell fremde Rede begegnet, wofür die Rede vom ganz Anderen steht. Die Gelassenheit gegenüber historischen Behauptungen usf. fängt sie ebenfalls ein. Wenn wir uns darauf verließen, dann begingen wir den Fehler der Selbstrechtfertigung bzw. Selbstkonstitution, wie sie sagt. Wir sollen aus dem Unverfügbaren leben, aus demjenigen, was wir nicht sichern können.
So sieht es auch Frettlöh. Und eben das wird in der Folge in den Diskurs einer geschlechtergerechten Rede von Gott einbezogen:
Die folgenden Überlegungen wissen sich R. Bultmanns Unterscheidung zwischen einem Reden von Gott (her) und einem Reden über Gott ebenso verpflichtet wie der Einsicht in die Unmöglichkeit, die Sinnhaftigkeit unserer Gottesrede selbst begründen und gewährleisten zu können. Unser Reden von Gott macht keinen Sinn, sondern es ist sinnvoll, insofern es dem Reden Gottes selbst nach- und entspricht. Gleichwohl knüpfe ich unter signifikanten Verschiebungen des erkenntnisleitenden Interesses an diesen programmatischen Text Bultmanns an: Ich lese ihn als einen, wenn auch impliziten, so doch konsequenten Versuch, dem Bilderverbot und der Bestimmung des Menschen zum Bild Gottes gerecht zu werden.
Frettlöhs Ansatz verbindet mithin die Bestimmung der weiblichen und männlichen Menschen als Bilder Gottes mit dem Bilderverbot in Ex 20 u. ö.. Das hat auch mit der reformierten Tradition zu tun, aber auch mit dem Fortwirken des Bilderverbots in der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers. Und jetzt wird das auf das Reden von Gott mit männlichen und weiblichen Metaphern angewendet, was sie an die Lebenswelten von Männern und Frauen knüpft. Was mit Frettlöhs Ansatz unmöglich ist, ist die Verobjektivierung einer Metapher, was sie an derjenigen der Mutterschößigkeit zeigt, in welcher der Uterus (rechem) mit dem Erbarmen (rachamim) verbunden ist[14]. Aber es ist sehr wichtig, dass diese Metapher überhaupt existiert – und sie wird auch von Lévinas zurückhaltend thematisiert[15], wenn es darum geht, hartleibige Subjektkonzeptionen zum Anderen hin zu öffnen.
Wir sehen uns in der Folge an, wie das sachkritische Prinzip funktioniert.
3 Bilder Gottes (1Kor 11,7-9; Gal 3,28)
1Kor 11,3ff ist einer der Texte des Paulus, in denen nicht alles gelungen ist. Bei Frettlöh fungiert der Text als exemplarisches Benachteiligen von Frauen:
7 Ein Mann muss sein Haupt nämlich nicht bedecken, weil er ein Bild (εἰκών [eikon]) und Glanz (δόξα [doxa]) Gottes ist; die Frau jedoch ist der Glanz des Mannes. 8Denn der Mann ist nicht von der Frau genommen worden, sondern die Frau vom Mann. 9Auch ist der Mann nicht wegen der Frau geschaffen worden, sondern die Frau wegen des Mannes.[16]
Die Haartracht einiger Frauen in Korinth ist das Thema. Wenn sie im Gottesdienst beten, müssten die Frauen ihr Haupt bedecken. Damit ist keine Kopftuch- oder Schleier-Debatte gemeint, wie z. B. im Katholizismus zumindest früher und heute im Islam. Denn Paulus zufolge haben die Frauen eine natürliche Kopfbedeckung, ihr Haupthaar. Angesichts der befreienden Erfahrungen des Geistes scheinen die oder zumindest einige korinthische Frauen sich ihre Haare abschneiden (lassen). Damit wurden sie den Männern gleich, es geht also um eine Gender-Frage. Sie lehnen ihre zweitrangige Rolle ab, die sich ihres Erachtens in der langen Haartracht zeigt. So die heute überwiegend akzeptierte hypothetische Bestimmung des Konflikts.
Paulus legt sich ziemlich ins Zeug, um das zu ändern, es ist auch logisch nicht konsistent, er scheint ziemlich aufgeregt zu sein. Wie man leicht sieht, bezieht er sich auf die LXX – und verbindet die erste mit der zweiten Schöpfungserzählung. Das wichtige Lexem εἰκών (eikon) und ebenso das wichtige Lexem δόξα (doxa) erscheinen in diesem Text. D. h., Gen 1,26f LXX werden mit der chirurgischen Operation Gottes verbunden, in der aus dem androgynen Wesen Adam eine Seite entnommen wird, aus der dann Eva entsteht. Dass das wahrscheinlich so wie im Symposion zu lesen ist, habe ich schon in der zweiten Vorlesung betont. Hier ist nur wichtig, dass es Paulus auch so hätte lesen können. Er lässt aber die Frau als aus dem Mann genommen sein, wobei sie nur ein Teil des androgynen Wesens Adam war.[17] Sie ist also abgeleitet, einige meiner Studentinnen betonen aber, sie sei doch immerhin der Glanz des Mannes. Ja, aber eben nur abgeleitet. Und deshalb sollen die korinthischen Frauen ihre Haare nicht abschneiden, denn dann sind sie schutzlos. Sie werden wie „Geschorene“: Hetairen, Freundinnen, in unserer Sprache: Prostituierte. Und als solche sind sie den lüsternen Blicken der Engel ausgeliefert, die in Gen 6,1-4 schon ihr Unwesen trieben – und in der Fantasy-Literatur des 1Hen ganz groß raus kommen. Der Asket Paulus (1Kor 7,1ff) hatte also offenbar sexuelle Fantasien.
Zum Glück ist es dabei nicht geblieben. In der korinthischen Korrespondenz gibt es mehrere Dauerthemen, auch Briefwechsel. Erstaunlich ist, dass Paulus auf seine Auffassung zur Haartracht nicht mehr zurückgekommen ist. Möglicherweise hatten einige Korintherinnen das Durcheinander in seiner Argumentation erkannt – und er bekam heiße Ohren.
Jedenfalls ist Paulus nicht bei dieser Variante der dynamischen Schriftauslegung geblieben. So heißt es in Gal 3,26-28:
26 Ihr alle nämlich seid Gottes Kinder im Messias (Christus) Jesus durch das Vertrauen. 27Denn alle, die ihr in den Messias hineingetauft seid, habt den Messias angezogen wie ein Kleid.
28Da ist nicht jüdisch noch griechisch, da ist nicht versklavt noch frei, da ist nicht männlich und weiblich: denn alle seid ihr eins im Messias Jesus.[18]
Hier zitiert Paulus in 3,28c: ἄρσεν καὶ θῆλυ (arsen kai thely) – männlich und weiblich aus Gen 1,27 LXX. Nach meinen Vorvätern handelt es sich um ein Taufbekenntnis o. Ä., das aber Paulus so akzeptiert. D. h., in Christus sind alle Herrschafts- und Vorzugsverhältnisse aufgehoben. „In Christus“ ist gleichbedeutend mit „In-der-christlichen-Gemeinde-Sein“ bzw. der neuen Schöpfung, die sich in ihr zeigt. Da der Text mit gnostischen (o. ä.) Metaphern arbeitet („Kleid anziehen“), ist es möglich, dass auch die Aufhebung des Geschlechterduals gemeint ist.[19]
Die Rede Lévinas von der „Spur“
Frettlöh präsentiert eine Position Lévinas‘, die sie fasziniert, aber die ihr als „christliche Theologin“ zu weit geht, allzu radikal erscheint:[20]
»Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selber ist. Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus. Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.«[21]
Ein Semiotiker ist zunächst einmal erschüttert angesichts der gedanklichen Sorglosigkeiten, die in phänomenologischen Texten in der Nachfolge Edmund Husserls vorkommen, natürlich ist eine Spur ein Zeichen. In diesem Fall hier verweist die Spur als Zeichen auf den vorbei gegangenen Gott, vor dem Hintergrund der Interpretanten bildenden dynamischen Schriftauslegung einiger jüdischer Schriftgelehrter, die sich auch schon seit Ex 19 vollzieht.
Daneben existiert in der Platonkritik ein Vorurteil, das z. B. nicht durch das Gespräch mit modernen Platonikern wie Schleiermacher und Whitehead irritiert ist.
Aber der Vorschlag der dynamischen Schriftauslegung, den Lévinas macht, ist genial. In Ex 19 agiert Gott noch als eine Art Wettergott (19,16), bevor der Dekalog und weitere Gebote bekannt gegeben werden. Zwischen dem Volk und JHWH existiert durchaus Kommunikation, z. B. 24,9f. In diesem Textsegment sehen einige Älteste den Gott Israels. Man sieht Ex 24 an, dass hier zumindest zwei Positionen miteinander ringen: In 24,1f scheint es nur Mose zu sein, der sich Gott nähern darf.
Die von Lévinas gemeinte Story führt die zweite Tendenz verschärft fort, Mose kann nur in einer Felskluft, beschattet von der Hand Gottes, wohl den כָבו֗ד (kavod) bzw. Gott selbst sehen – bzw. von hinten her. Übrigens spricht das narrative Szenario dafür, dass kavod ein sichtbares Phänomen bezeichnet, weshalb doxa eine ernst zu nehmende Übersetzung ist.
Lévinas schließt sich dieser verschärften Position an – und interpretiert sie so, dass man/frau die Spur Gottes auf dem Antlitz jedes Menschen wahrnehmen könne.
Ähnlich argumentiert Joh 1,18:
Niemand hat Gott jemals gesehen.
Nur der einzige geborene Sohn, der an der Brust des Vaters liegt, der hat ihn (sc. Gott) ausgelegt.
Die gleiche Auswahl aus Ex 24, eine Interpretation der Mosefigur (vgl. 1,17) – und der Hinweis darauf, dass der einzige geborene Sohn Gott ausgelegt hat. Und der einzige geborene Sohn liegt an der Brust des Vaters, ein sinnliches Bild der Liebe.
Wer das bombastisch offenbarungstheologisch missversteht, hat m. E. wenig verstanden. Denn dieser Auslegungsprozess endet am Kreuz bzw. schließt es ein – und er setzt sich dann in der Liebe der Schüler/innen weiter fort (Joh 17), die sich universalisieren soll. Das setzt aber voraus, dass der Kreuzestod nicht von der Liebe getrennt werden kann, mithin der Prozess der Universalisierung der Liebe Leiden, auch das Mitleiden Gottes einschließt. Also kein Triumphalismus, sondern Nachdenklichkeit.
M. E. sind Figuren wie Lévinas Warnzeichen für Theolog/inn/en, sich nicht zu überheben. Wenn wir in unseren Texten zumindest die Spur Gottes finden würden, dann wäre schon viel geleistet. Und es ist klar, dass unsere Arbeit nur dann sinnvoll ist, wenn wir die Liebe tun – und die Spur Gottes auf dem Angesicht des/der Nächsten wahrnehmen.
Ich fasse zusammen:
- Frettlöh kann nachvollziehbar zeigen, dass כָבו֗ד.(kavod).nicht mit „Herrlichkeit“ übersetzt werden kann. Die damit einhergehende Kritik an patriarchalen Mustern in der evangelischen Theologie und Kirche ist berechtigt.
- Bultmann gewinnt durch Frettlöhs Interpretation. Frettlöhs Interpretation ist sachgemäß. Es ist völlig richtig, die feministische Sprachkritik vor dem Hintergrund von Barths frühen Äußerungen aufzubauen und dies mit Bultmanns Selbstkonzeption zu verbinden.
- Das in dieser Vorlesung vertretene Modell der aus dem Judentum stammenden dynamischen Schriftauslegung ist mit Frettlöhs Modell kompatibel, aber nicht damit identisch. Typisch für Systematiker/innen versucht sie verschiedene, einander sogar widersprechende Positionen dadurch miteinander kompatibel zu machen, dass man/frau das eine durch das andere begründet sein lässt (Bilderverbot, männlich und weiblich als Bild Gottes) – das sogenannte (transzendentale [?]) Zwei-Ebenen-Modell. Das werden wir in der Folge der Vorlesung modifizieren, offenbar bezeichnet Gen 1,27f noch etwas anderes. Der Versuch, Lévinas einzubeziehen, ist äußerst fruchtbar. Sie sollte sich dadurch ermutigen lassen.
- Rückfragen Wenn ich mich nicht irre, gab es vor allem die Frage, ob Paulus nicht doch in 1Kor 11 einen wesentlichen Beitrag geleistet habe. Vor dem Hintergrund, dass Gal 3,28 existiert, eher nicht. Aber dieser Text ist erhalten geblieben und steht weiter zur Verfügung, wodurch die kontroverse Struktur der Präkanonischen Edition sichtbar wird. Die heutigen Leser/innen bilden sich eine eigene Meinung und handeln kirchlich entsprechend.
[1] Magdalene L. Frettlöh, Gott Gewicht geben usf., 22009.
[2] Frettlöh (Anm. 1), XVIf.
[3] Vgl. Schleiermacher, Kurze Darstellung (Vorlesung III), 183 (§ 115 Erl).
[4] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 57ff.
[5] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 2f.
[6] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 73ff.
[7] Bei Frettlöh wird das nicht betont, vgl. z. B. Frettlöh (Anm. 1), 161.
[8] Karl Barth, Wort Gottes und Theologie, 156-178, 158.
[9] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 187ff.191ff.
[10] Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (Vorlesung 1), 94.
[11] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 15ff.
[12] Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen I, 81980, 26-37, 28.
[13] Alle Zitate bei Frettlöh (Anm. 1), 156f.
[14] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 247ff.
[15] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 315.
[16] Luise Schottroff, „Bibel in gerechter Sprache“, zur Stelle, etwas im Sinne von Frettlöh (Anm. 1), 162ff, angepasst.
[17] Vgl. auch Frettlöh (Anm. 1), 164ff.
[18] Brigitte Kahl, „Bibel in gerechter Sprache“, z. St. Sie wählt für Χριστός die Übersetzung Messias, welches eine gräzisierte Variante des hebräischen Begriffs meschiach ist. Die Anpassung von 3,28a.b an 3,28c ist logisch-semiotisch legitim, Substantive und Adjektive sind nur oberflächengrammatisch unterschieden, aber in der Tiefengrammatik nicht. Ein Jude sein, ist semantisch koextensiv damit, etwas Jüdisches zu sein.
[19] Vgl. die Erwägungen von Ruth Heß, in: Frettlöh (Anm. 1), 170.
[20] Vgl. Frettlöh (Anm. 1), 158-160.
[21] Emannuel Lévinas, Die Spur des Anderen, 31992, 235.